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Visuelle Meta-Partituren

Xavier Le Roy nähert sich Helmut Lachenmann

Der Choreograph Xavier Le Roy hat eine bewegte Biographie. Die dauerhafte Erwähnung des Umstandes, dass er ein Leben in der Molekularbiologie vorzeitig beendet hat, wird ihn nicht stören, denn die frühere wissenschaftliche Arbeit und das dazugehörige Denken hat einen unbestreitbaren Einfluss auf die Äußerungen seiner Künstlerpersönlichkeit. 2005 näherte er sich erstmals der Musik von Helmut Lachenmann, choreographierte und dekonstruierte sie. Nun erklangen beim „TonLagen“-Festival in Hellerau „More Mouvements for Lachenmann“. Warum ausgerechnet dieser Komponist, dessen Werke ja ohnehin komplex genug sind? Le Roy ist als „Nicht-Musiker“ unbedarft genug, sich der Musik von Lachenmann mit der zumeist effektiven Naivität des wissenschaftlichen Geistes zu nähern. „Pression“ für Violoncello Solo läßt Le Roy noch in Ruhe, es erklingt als Konzertstück. Dabei übersieht er, das ausgerechnet dieses Werk haufenweise theatralische Elemente in sich birgt, die aber auch der Cellist Andreas Lindenbaum in seiner recht emotionslosen Darstellung nicht zum Vorschein bringt. Im zweiten Stück des Abends, setzt Le Roy die beiden Gitarristen Gunter Schneider und Barbara Romen in „Salut for Caudwell“ hinter eine schwarze Wand, und zwei weitere Gitarristen (Tom Pauwels und Günther Lebbing) vollführen im Vordergrund, der Instrumente beraubt, eine recht anständige Luftgitarrenmeisterschaft. Das Memory-Spiel mit den Sinnen geht weiter: Anstelle der Streichquartett-Originalfassung von „Gran Torso“ mixt Le Roy die Caudwell-Gitarren hinein, wirbelt die Partitur durcheinander und nimmt dem Stück am Ende ebenfalls die Instrumente und damit die Musik weg. Luftzeichen malen die Streicher, heftige Armbewegungen oder Kreise, kleine Fingertipps auf den Knien oder ein Wischen auf der Stirn. Von Musik keine Spur mehr, anstelle von Lachenmanns spezieller Semantik erscheint ein neuer Komponist: er heißt Xavier Le Roy. Und doch fügt er nichts hinzu, sondern seziert den Torso bis auf die Knochen. Fraglich ist, was als Ergebnis beim Zuhörer übrigbleibt: Lust am Experiment? Dekonstruktionsspiele? Abstrakte Körperarbeit? Der Weg zum Tanz über den Choreographen führt jedenfalls in die Irre – man möchte Le Roy lieber „Organisator von Bewegungen“ titulieren, denn die in äußerster Präsenz agierenden Musiker bewegen sich mit ihrem Körper in ähnlicher Weise, wie sie mit den Instrumenten im Stück Töne und Klänge erzeugen würden. Was bleibt, ist lediglich eine visuelle Zeichensprache, eine Meta-Partitur, die übrigens auf einfachste Weise Strukturen des Werkes offenlegt, denn ein wandernder flüchtiger Klang wird schwieriger wahrgenommen als das entsprechende visuelle „gewischte“ Zeichen mit dem Arm. Lachenmann soll sich über die derartige Beschäftigung mit seinen Werken gefreut haben, auch die Musiker berichten über positive Erfahrung mit der Aufgabe, Musik ohne ihr Instrument zu gestalten. Über die Präsenz der Sinnlichkeit der abwesenden Musik ließe sich streiten, denn trotz der „kalten“ Präzision der Bewegungserzeugunn saßen in „More Mouvements for Lachenmann“ ja Musiker u. a. des Klangforum Wien, die mit den Stücken bestens vertraut sind. Wer meint, das Publikum würde sich selbst die Musik zu den Bewegungen der Instrumentalisten dazukomponieren, liegt falsch. Nicht jede Körperlichkeit erzeugt Musik, es gibt stumme Tänze und Choreographien, die völlig musiklos denkbar sind, obwohl sie eine eigene Struktur, gar Rhythmus und Takt besitzen. Die Steigerung dieses Abends wäre gewesen, die Zuschauer aufzufordern, die Veranstaltung mit geschlossenen Augen aufzunehmen. Von Lachenmann wäre dann keine Hör-Spur mehr vorhanden gewesen. Ob man damit der Musik gerecht wird?

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Veröffentlicht in Rezensionen

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