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Was ist denn mit der ZEIT los…?

Früher las ich ja gerne mal die Zeit. Aber mittlerweile ist vor allem die Online-Ausgabe offenbar ein Tummelpunkt für Schwafler und Salbader geworden. Nach dem merkwürdigen Artikel über das angebliche Dresdner Kulturbürgertum von Florian Illies in Bezug auf Thielemann versteigt sich nun Christoph Drösser in eine Gegenwartsanalyse der besonderen Art in Bezug auf Neue Musik. Nicht nur werden da wieder viele Uraltargumente wieder ins Feld geführt, nein, schnell wird auch mal die Musikgeschichte verdreht. Im einzelnen:
– „Schönberg aber ist seit 58 Jahren tot, und seine Zwölftonserien haben ebenso wenig einen Eingang in die populäre Kultur gefunden…“ – halb Hollywood nutzt die Techniken, und als Juilliard-Komponist gilt man ohnehin nur etwas, wenn man in Eislerscher Manier ein Hupfdohlenmusical mit der Krebsumkehrung verziert.
– „…wie die elektronischen Experimente Karlheinz Stockhausens oder die Geräuschcollagen von Pierre Henry.“ – Was ist mit Kraftwerk, was mit Hörspielmachern und Filmkomponisten? Die würden ohne diese Pionierarbeit nicht existieren.
– „die Zeitgenossen der »zeitgenössischen klassischen Musik« sterben langsam aus.“ – Drösser sollte sich vielleicht mit jungen Studenten an den Hochschulen unterhalten (am besten nach einem AUSVERKAUFTEN Konzert, die man in letzter Zeit immer öfter erleben kann) – da „stirbt niemand aus“, im Gegenteil.
– „Fast jeder kennt den »Hurz«-Sketch von Hape Kerkeling“ – kann das der Startpunkt einer ernsthaften ästhetischen Diskussion sein.
– „Die Forscher staunen, wie plastisch unser Gehirn ist“ – und es erliegt eben nicht „Konsonanztheorien“, die Gehirnwissenschaftler aufgestellt haben. Die Bequemlichkeitstheorie, die Nachäfftheorie, die Traditionstheorie, die Passivitätstheorie, DIE haben die Gehirnforscher leider nicht auf dem Aufgabenzettel (soll heißen: die isolierte Betrachtung etwa einer Konsonanztheorie kann nicht zum Ergebnis „zu schräg für unser Gehirn“ führen.
– „Genauso lernen wir Musik, indem wir zunächst aus den vielen möglichen Tonskalen diejenige isolieren, die in unserer Kultur vorherrscht – eine Prägung, die wir praktisch nicht mehr ablegen können.“ – Richtig, hier ist nur ein Wort falsch: „können“ durch „wollen“ ersetzen. Und dann wäre zumindest ein wichtiges Argument für das „Schräge“ hinzugefügt.
– „Das Wiedererkennen ist ein Erfolgserlebnis, das uns Musik verstehen lässt.“ – Tja, an der Stelle sollten die Forscher mal ansetzen mit ihren Elektroden am Kopf. Ich bekomme nämlich immer Würgereize, wenn mich schlechte Cover-Titel im Radio in die „kennenwirdoch“-Schublade schieben oder mir ein Professor an der Hochschule seine Kettenrondotheorie als Neue Musik verkaufen will. Nein Danke. Wiedererkennen ist Mist und hat nichts mit NEUgier, LERNEN und WEITERENTWICKELN zu tun.
– „Just solche Erfolgserlebnisse enthält die Neue Musik dem Hörer vor“ – tja, weil sie vielleicht weiß, dass es auf solche „Erlebnisse“ nicht ankommt. Und 2/3 der angeblich „neuen Musik“ huldigen ohnehin der Wiedererkennung, und sei es durch Verwendung traditioneller Parameter.
Nun der Hammer: eine 12-Ton-Reihe kann man sich ja nicht merken, schon gar nicht dessen Umkehrungen. Richtig, ein Gehirn ist SCHLAUER, als bloßes Merken funktioniert. Es ist nämlich fähig, eine 12-Ton-Reihe als komplexes harmonikales und intervallisches Gebilde ALS GANZES wahrzunehmen. Oder warum kommt uns ausgerechnet das Berg-Violinkonzert so merkwürdig „schön“ vor? – Als nächstes frage ich mich, wie komplexe Werke der Historie (H-Moll-Messe, Eroica, 9. Schubert usw.) durch „Merken“ rezipiert werden können. Merken ist nur eine Verästelung der Rezeption.
– „Denn es gibt auch andere hochkomplexe Musikrichtungen, von Bachs Fugen bis zum modernen Jazz, die zunächst fremd klingen, aber doch faszinierend genug sind, um auch ein Laienpublikum anzuziehen.“ – Gegenfrage: Warum beiben bei Kunst-der-Fuge-Gesamtaufführungen Reihen leer (und einige Leute gingen sogar). Dass Modern Jazz nur in Leverkusen die Hütte füllt, sollte auch bekannt sein. Und zwar keineswegs von Laien. Die hören Till Brönner.
(NB: auf Thema und Argumente hin bearbeitet)

und noch ein Merkzettel zur „Konsonanztheorie“ hintendran, für spätere Auseinandersetzung:
MARTIN EBELING (Konservatorium Mainz): Verschmelzung und neuronale Autokorrelation als Grundlage einer Konsonanztheorie
1. Ziel
Ein von Gerald Langner (1983 / 2007) beschriebenes Modell neuronaler Periodizitätswahrnehmung im auditorischen Stammhirn wird auf musikalische Intervalle angewandt.
2. Mittel
Die neuronale Codierung und Autokorrelation zur Periodizitätsanalyse lässt sich in einem mathematischen Formalismus nachbilden, der auch die physiologisch bedingten Unschärfen neuronaler Verarbeitung berücksichtigt.
3. Neuronaler Code
Durch die Frequenzanalyse im Innenohr wird Schall peripher in seine Frequenzkomponenten zerlegt und in einen neuronalen Code übersetzt. Ein einfacher Ton hat ein periodisches Feuermuster, dessen Periode dem Kehrwert der Frequenz entspricht. Die statistische Verteilung der Intervalle zwischen allen neuronalen Impulsen liefert einen Code zur Übertragung akustischer Informationen. Die Zeitreihenanalyse des neuronalen Codes in
Autokorrelationshistogrammen zeigt Maxima für Perioden, die den empfundenen Tonhöhen entsprechen (Caria-
ni & Delgutte 1996). Intervalle sind neuronal durch simultane Impulsketten repräsentiert (Trame et al.2001), die
teilweise koinzidieren.
4. Generalized Coincidence Function
Durch die „Generalized Coincidence Function“ (Ebeling 2007) definiere ich eine Maßzahl für den Grad dieser
Koinzidenz, die ein Maß der Ordnung neuronaler Feuermuster ist. Trägt man diese Maßzahl gegen alle Intervallverhältnisse ab, erhält man eine Kurve, die Konsonanzen stärker hervorhebt als Dissonanzen und dasselbe Bild zeigt, wie Stumpfs Kurve der Verschmelzungsgrade (Stumpf, 1890). Stumpfs Verschmelzungsbegriff ist also analog zu koinzidierenden Erregungen bei der neuronalen Periodizitätsanalyse. Aber auch kleinste Intervalle zeigen hohe Verschmelzungsgrade. Dass diese Intervalle dennoch dissonant sind, lässt sich auf Rauhigkeit zu-
rückführen.
5. Verschmelzung und Rauhigkeit sind Grundlage der Konsonanz und Dissonanz
Eine Synthese aus Koinzidenztheorie im Zeitbereich (Periodizitätsanalyse von Impulsfolgen und überlagernde
Erregung „Verschmelzung“) und Störtheorie im Frequenzbereich (Erregung innerhalb der Kopplungsbreite „Rauhigkeit“) sollte Grundlage einer Konsonanztheorie sein. Das Wesen der Konsonanz ist in der neuronal Periodizitätsanalyse durch Autokorrelation begründet, die der Verschmelzung in der Apperzeption entspricht. Ausschließlich auf Rauhigkeit basierenden Störtheorien (v. Helmholtz 1862, Plomp & Levelt 1965, Terhardt 1976)
wird widersprochen.
Veröffentlichungen (Auswahl): Tonhöhe: physikalisch – musikalisch – psychologisch – mathematisch (Frankfurt a. M.: Peter Lang 1999), Verschmelzung und neuronale Autokorrelation als Grundlage einer Konsonanztheorie (Frankfurt a. M.: Peter Lang 2007), Konsonanz und Dissonanz (in: Bruhn / Kopiez / Lehmann & Oerter (Hrsg.): Musikpsychologie. Das neue Handbuch, Hamburg: Rowohlt 2008)

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Veröffentlicht in hörendenkenschreiben

9 Kommentare

  1. Danke für dieses Posting! Ich habe mir manchmal schon ähnliches gedacht, doch bin ich weit weniger berufen, über moderne Musik zu urteilen, als ein zeitgenössischer Komponist.
    Ich möchte noch die Hubschrauber von Pink Floyd einwerfen, die für mich zur reinsten Musik zählten, und beim Vergleich mit Beethoven einmal die Fuge der Hammerklaviersonate ins Treffen führen. Ich schaffe die nicht, weil sie mich gehirnmäßig überlastet, obwohl ich bis auf 3 alle anderen Sonaten inklusive der 111 gespielt habe.
    Und sie haben recht, ein Alban-Berg-Violinkonzert ist unheimlich melodiös und nachvollziehbar, wenn man es ein paar mal gehört hat.

    Aber das Erarbeiten von Musik, das auch bei klassischer Musik nicht fehlen sollte, um den vollen Genuss zu haben, kommt in der heutigen Zeit aus der Mode. Und so wird auch der Artikel von Drösser eher einem Durchfall als einer echten Verdauung von Genossenem entsprechen.

    • …nüchtern (= sachlich) und mit Tagesabstand betrachtet ist es wohl einfach der Artikel eines Wissenschafts-Journalisten, der mit dem Griffel und ein paar Meßgeräten an der Oberfläche eines Themas kratzt. Das ist einfach bedauerlich.

  2. Gut so! Gute und wichtige Reaktion!
    Bitte unbedingt auch an die ZEIT als Leserbrief – das wäre ebenfalls wichtig!

    Herzliche Grüße,
    HBW
    Vorsitzender INMM Darmstadt

    • Ja, Leserbrief an die Zeit ist angebracht!
      Ich schließe mich an.

  3. kleinbratsche dresden kleinbratsche dresden

    Wie schön, dass sich noch andere über diesen von keinerlei Wissen getrübten Artikel geärgert haben!
    Dazu ist es sehr lehrreich, sich mal das musikalische Rahmenprogramm dieser Kemptener Tagung „Zeitklänge“ anzuschauen, auf die sich Drösser da bezieht: Unter „Neuer Musik“ versteht man da offensichtlich Webern, Strawinsky und Prokofjev. Und die Werke des Tagungsleiters.
    Die Tagenden hätten sicher besser daran getan, ihr Treffen zu verschieben und jenes Wochenende zu nutzen, um sich mal in Donaueschingen anzuhören, wie Musik lebendiger Komponisten klingt…
    Schade, dass unter den Vortragenden dort echt auch neuro- und musikwissenschaftlich bedeutende Leute waren, die es eigentlich hätten besser wissen müssen.

  4. Alff Orden Alff Orden

    Danke für ihren Artikel, habe ihn jetzt erst durch Zufall entdeckt. Mich wundert nur: Die ZEIT gerne gelesen? Soetwas hat dort doch Tradition, genauso wie in der WELT. Wenn man die Internetportale mal nach – beispielsweise – „Zwölftontechnik“ durchsucht, kommen einem nur Hetzschriften entgegen. Interessant dazu auch: http://www.faz.net/s/Rub4D7EDEFA6BB3438E85981C05ED63D788/Doc~EF3B0419DF9A9470A8C2BD90A18C98087~ATpl~Ecommon~Sspezial.html

    Bemerkenswert auch, das die moderne Musik, die vor 1945 entstand, immer weiter gescholten wird, derweil die Musik nach 1945 eher positiv wegkommt. Das liegt an den Vorurteilen, die in der dieser Zeit so unauslöschlich eingepflanzt wurden, und immer weiter kopiert werden.

  5. Leonie Roessler Leonie Roessler

    Danke! Hey!
    Bin gerade direkt beim Lesen dieses Zeit-Online Artikels auf den Deinigen gestossen. Finde ich super!
    Gruesse vom Koeniglichen Konservatorium in Den Haag
    Leo

    • Danke & Grüße zurück – der ist ja schon älter, der Artikel und mein Kommentar – aber so hab ichs nun auch mal wiedergelesen 🙂

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