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Ein Kino im Westjordanland

Dresdner Sinfoniker eröffnen mit „Cinema Jenin“ das Tonlagen-Festival

Wenn Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker, auf der Suche nach neuen Klängen durch die Welt reist, bleibt er selten lange allein. Zu sehr interessiert er sich für die Kultur, das Leben und vor allem die Musik in den betreffenden Ländern, sei es Tadschikistan, Ost-Anatolien oder Palästina. Aus den vielfältigen Kontakten entstehen Ideen und Visionen; manche müssen über Jahre wachsen und reifen, um Weltkulturen, Meinungen und auch die Finanzierung zusammenzubringen und Hindernisse à la „Markus, das ist doch völlig unmöglich“ im Handstreich aus dem Weg zu räumen. Wer im letzten Jahr die anatolische Reise „Hasretim“ der Dresdner Sinfoniker bei den Tonlagen Hellerau besuchen konnte, hat ein tiefgehendes Musikerlebnis, Musikverständnis aus Anatolien mitnehmen können.

In diesem Jahr wird das Tonlagen Festival mit einem neuen Projekt des experimentierfreudigen Ensembles eröffnet. Diesmal wenden sich die Sinfoniker Palästina zu, genauer: der Stadt Jenin im Westjordanland. Der persische Komponist und Kamancheh- (ein iranisches Streichinstrument) Virtuose Kayhan Kalhor schrieb als Auftragswerk für die Sinfoniker und den Dirigenten Andrea Molino „Cinema Jenin – A Symphony“ – eine konzertante Hommage an das weltweit bekannt gewordene Kino in Palästina. Das neue Werk wird er mit dem Orchester und mit vier weiteren Solisten aus dem Iran, Ägypten, Israel und den USA zur Uraufführung bringen.

Weltbekannt wurde die Stadt Jenin durch das Schicksal Ismael Khatibs, der 2005 die Organe seines von israelischen Soldaten getöteten 11jährigen Sohnes Ahmed an israelische Kinder spendete. Diese großartige Geste der Versöhnung bildete nur drei Jahre später den Ursprung für den Wiederaufbau des Kinos in Jenin, das seit der ersten Intifada 1987 geschlossen und dem Verfall preisgegeben war. Rindt lernte den Dokumentarfilmer Marcus Vetter in Jenin kennen, der Khatibs Geschichte preisgekrönt verfilmt hatte und mit ihm das Kino wieder zum Leben erweckte. Gemeinsam mit Vetter und dem Produzenten Ben Deiß wurde die Idee geboren, die Geschichte des Kinos auch musikalisch zu begleiten und Musiker aus der Region dafür zu begeistern – zu Kayhan Kalhors Musik werden nun Szenen aus Marcus Vetters gerade entstehenden Dokumentarfilm „Cinema Jenin“ gezeigt.

Ein weiteres Werk Kalhors, „Silent City“ wird darüber hinaus in einer speziell für die Sinfoniker entstandenen Version uraufgeführt – besonders spannend wird zu erleben sein, wie sich die Musiker hier mit der traditionellen persischen Musik, die ganz eigene Regeln und Skalen kennt, auseinandersetzen werden. Bereits um 18 Uhr können die Konzertbesucher im Festspielhaus den preisgekrönten Dokumentarfilm „Das Herz von Jenin“ von Marcus Vetter sehen.

— Rezension des Konzertes: —

Heimkommen in der Musik
„Cinema Jenin – A Symphony“ zur Eröffnung des „Tonlagen“-Festivals in Hellerau uraufgeführt

Der dritte Jahrgang des „Tonlagen“-Festivals in Hellerau wurde am Sonnabend mit einem Konzert der Dresdner Sinfoniker eröffnet. Zuvor wiesen Intendant Dieter Jaenicke und Bürgermeister Ralf Lunau in ihren Reden auf mehrere feierwürdige Jubiläen hin, die mit dem diesjährigen Festival verbunden sind: der 100. Geburtstag des Festspielhauses etwa, dessen Fassade zwei Tage vor der Festivaleröffnung fertiggestellt wurde. Neben der behutsamen denkmalpflegerischen Restaurierung ist nun auch wieder das Yin-und-Yang-Symbol im Giebel zu bestaunen. Außerdem finden – nach alter Zählung – die nunmehr 25. Tage der zeitgenössischen Musik statt, die 1987 von Prof. Udo Zimmermann begründet wurden und fundamental zur Entwicklung des Kunstortes Hellerau beigetragen haben. Schließlich werden die „Tonlagen“ in diesem Jahr den Minimal-Komponisten Steve Reich ehren, der dieser Tage seinen 75. Geburtstag feiert.

Viele freudige Anlässe also, doch der musikalische Eröffnungsbeitrag geriet ernst, bewegend und auch politisch. Damit wurde ein Gegenzeichen gesetzt zur Unbekümmernis, in der die Musik der letzten Jahre sich zwar oft parallel, aber selten Position beziehend zu gesellschaftlichen und politischen Realitäten verhält. Die Sinfoniker lassen es selten dabei bewenden, die Welt lediglich musikalisch abzubilden, immer auch verbinden sich Botschaften, Visionen oder Experimente damit. In Zusammenarbeit mit dem Dokumentarfilmer Marcus Vetter, dem arabischen Kamancheh-Spieler und Komponisten Kayhan Kalhor und dem Produzenten Ben Deiß wurde die Musik zum Film „Cinema Jenin“ entwickelt. Das seit der Intifada 1987 verwaiste Kino im Westjordanland wurde von Vetter und Ismael Khatib unter großen Mühen wiederaufgebaut und 2010 eröffnet. Der Film zeigt nicht nur den Wiederaufbau und den komplexen Hintergrund dieses Projekts, sondern macht die besondere Position des Kinos in der von Krieg und Attentaten gebeutelten Stadt im Westjordanland deutlich. Keinesfalls geriet die Kino-Eröffnung zum Triumph, denn bei Vorführungen wurde über das Tragen von Waffen und die Bedeutung von Frieden und Freiheit intensiv debattiert. Doch damit manifestierte sich gleichzeitig der humanistische Akt des Wiederaufbaus: wo Menschen wieder miteinander reden, ist auch Frieden, ist Kultur möglich. Insofern geriet die Präsentation des Films gemeinsam mit der faszinierenden Musik von Kalhor zu einem tief bewegenden Erlebnis. Fast schon symbolisch wirkte da, dass der noch nicht ganz fertiggestellte Film von Vetter nur in Ausschnitten zu sehen war – das Unfertige, Unruhige der Region wurde so gleich noch einmal gespiegelt.

Wahre Beruhigung, eine Art Heimkommen im Klang strahlte indes Kalhors Musik aus. Mit Shane Shanahan (Percussion), Kamil Shajrawi (Oud), Sa’ad Mohamed Hassan (arabische Violine) und Ali Bahrami (Bass-Santour) war ein internationales Solistenensemble beteiligt. Die in Streicherbesetzung spielenden Sinfoniker agierten in dieser Partitur mehr als Background für die Stimmungen, die die Solisten mit virtuosen Arabesken auslösten. Dirigent Andrea Molino hatte zuvor schon „Silent City“ von Kayhan Kalhor geleitet, ein Werk, dass im Gedenken an ein Kurdenmassaker an der iranisch-irakischen Grenze geschrieben wurde und eindrücklich Trauer und Hoffnung in einem Stück verband. Dabei waren die Sinfoniker auch in ihrem Improvisationstalent gefragt, denn zwei Drittel des Stückes wurden „live“ in den Proben ohne Noten erarbeitet. Mit dem letzten Akkord des beschwingten Schlusstanzes dieses Werks versagte Molino, der ohnehin mit ganzem Körpereinsatz dirigierte, das linke Bein seinen Dienst – doch er konnte „Cinema Jenin“ nach der Pause sitzend, doch gleichwertig beseelt, interpretieren. Dafür dankte ihm das Publikum besonders herzlich, wie überhaupt der ganze Abend zu einem nachdrücklichen Erlebnis geriet.

(2.10.11)

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Veröffentlicht in Rezensionen

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