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Meditatio Mortis

Peter Gülkes neues Buch „Musik und Abschied“

Dass wir vom Tod oft mitten im Leben umfangen sind, ist uns nicht nur aus Luthers Zeilen wohlbekannt. Zu gewissen Zeitpunkten müssen wir ihn alle erleben, erdulden und uns damit auseinandersetzen. Ebenso entstehen wiederkehrend Gedanken über die eigene Sterblichkeit und Existenz. Doch eine Selbstverständlichkeit, gar Akzeptanz von Tod und Vergänglichkeit mutet uns angesichts der Größe und Komplexität des Themas fremd an. Oft genug stößt man an die Grenzen des Begreifens, fehlen einem die Worte. An diesem Punkt eines tiefgreifenden eigenen persönlichen Erlebnisses angelangt, widmete sich der Dirigent, Musikwissenschaftler und Siemens-Preisträger Peter Gülke der Musik, die im Angesicht des Todes oder eines Abschieds zu allen Zeiten der Musikgeschichte komponiert wurde und zeichnete seine Gedanken auf.

Gülke kann aufgrund seiner überreichen Erfahrung eines Lebens in der Musik damit nicht nur eigene Trauerarbeit in klingender, bereichernder Umgebung vollziehen, er gibt nun diese Betrachtungen an seine Leser weiter. Am Montagabend stellte Gülke „Musik und Abschied“ im Gespräch mit dem Germanisten Ernst Osterkamp in der Sächsischen Akademie der Künste vor und es wurde schnell deutlich, dass es sich bei den insgesamt 54 Essays nicht um ein „Potpourri mit Trauerrand“ handelt, sondern – die Formulierung des Adam von Fulda schwebt gleichsam als Motto über dem Buch – eine „meditatio mortis“. Keineswegs ist dies aber ein Buch, das nur in dunklen Stunden gelesen werden sollte, und erst recht nicht eines, das einem enzyklopädischen oder wissenschaftlichem Anspruch Genüge tun will.

Gewählt hat Gülke eine literarische Form der Annäherung und Umkreisung, die das „Bewusstsein des Danebentreffens“ im Wort, so Gülke, einschließe. Denn wie erklären wir uns berühmte letzte Werke, wo doch das Vergehen selbst in der Musik schon immanent ist und der Augenblickscharakter von Musik auch da wirkt, wo gar nicht vom Tod die Rede ist? Wie stehen wir – mitten im Leben – einem Werk gegenüber wie etwa Bachs „Kunst der Fuge“ oder dem Adagio in Bruckners 9. Sinfonie, in dem sich bereits der Himmel zu öffnen scheint und die ohnehin bereits „dem lieben Gott“ gewidmet ist? Gülkes neues Buch ist in besonderer Weise eine Niederschrift intensiven Nachdenkens über Musik – das schließt die Form des Essays samt eingeschobener Selbstgespräche ein, die Gedankenexperimente ebenso zuläßt wie Fragmentarisches, gar Aphoristisches. Denn, um bei einem von Gülke geliebten Abschiedswerk zu bleiben, angesichts des Streichquintetts C-Dur von Franz Schubert, endgültige Antworten zu geben, liegt kaum einem Buch wie diesem ferne – Gülke nimmt uns nicht die Sprachlosigkeit, aber er zeigt sie uns.

Und so faszinieren letztendlich die vielgestaltigen Aspekte des Themas, die einem nun fast überlebendig (sic!) und farbig schillernd aus dem Buch entgegenleuchten: etwa das „Singen über Abgründen“, was wir auch in Schuberts Winterreise finden, oder die nicht dem Glauben widersprechende Ratlosigkeit Johann Sebastian Bachs, wenn er in den Passionen den Moment des Todes auskomponiert, die Todesvokabeln in alten Motetten wie auch zeitgenössischer Musik oder gar ein dröhnendes C-Dur, das nach Wahrheit fragt. Von Fragen handelt das Buch, muss das Buch mehr handeln als von Antworten und doch wird der Leser reich beschenkt, weil Gülkes universelles Wissen um Zusammenhänge in der Musikgeschichte, den Biographien, den Sach- und Zwangslagen der Komponisten und ihrer historischen Umgebung wie selbstverständlich einfließen. Die Demaskierung des Zitterns und Fürchtens im Kapitel „Tage des Zorns“, das eben manche Komponisten nicht komplizenhaft und dem Text ausgeliefert vertonten, ist da ebenso überraschend zu lesen wie das Essay „Frauen sterben anders“ – dem lakonischen Titel folgt eine feinsinnige Analyse von Bühnenfiguren bei Purcell, Puccini und Janáček.

Wenn wir die Größe eines Spätwerks (auch diesen Begriff überzieht Gülke im Buch wie im Gespräch mit dem berechtigten Stirnrunzeln, dem sogleich das Weiterdenken folgt) eines Beethoven, Mahler, Schubert oder Schostakowitsch vor der Lektüre von „Musik und Abschied“ nur geahnt haben, so sind wir ihnen mit Gülke vielleicht ein Stück näher gerückt. Die Dimension des Begriffes der Zumutung, den Gülke angesichts des Alterswerkes einiger Komponisten wählt, wird einem in der Erschütterung des Hörens bewusst. Zum Hören, und das ist die wohl schönste Wirkung des Buches, lädt „Musik und Abschied“ ausdrücklich ein. Peter Gülke verriet im Gespräch ein Geheimnis des eigenen Ansporns: „Musik, die ich schön finde, finde ich noch schöner, wenn ich darüber noch mehr herausfinde.“ Dies kann auch ein Leitspruch bei der Lektüre dieses Buches sein, in dem oft weit über das Thema hinaus einen hallender, tönender Raum geöffnet wird und die Musik beim Lesen zum treuen Begleiter gerät.

* Peter Gülke – Musik und Abschied, 362 S., Verlag Bärenreiter/Metzler
ISBN 978-3-7618-2377-4

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Veröffentlicht in Rezensionen

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