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Musikalisch gelebtes Glaubensbekenntnis

Sofia Gubaidulinas Oratorium „Über Liebe und Hass“ im 3. Kapellkonzert erstaufgeführt

Die enge Verbundenheit der russischen, seit 1991 in Deutschland lebenden Komponistin Sofia Gubaidulina zur Sächsischen Staatskapelle Dresden, ihre Ankündigung, aus der 2015 uraufgeführten Kantate „O komm, Heiliger Geist“ zu einem großen Oratorium auszuweiten und natürlich ihr 85. Geburtstag vor einigen Tagen waren Gründe  genug, sie erneut zur Capell-Compositrice zu ernennen.

Im 3. Sinfoniekonzert erlebte am Sonntagvormittag in der Semperoper ihr Oratorium „Über Liebe und Hass“ seine Deutsche Erstaufführung, die Uraufführung fand am 14. Oktober in Tallinn statt. Dem rund 50-minütigen Opus Summum ging eine Konzerthälfte voraus, die für sich stand und keinerlei beabsichtigte Verbindung dazu aufwies. Richard Strauss‘ Serenade Es-Dur für 13 Bläser, war 1882 gut geeignet, die Bande zu den Dresdnern zu knüpfen, und das trug bekannte Früchte, blieb aber im Konzert folgenlos und damit ein heiter-belangloser Einstieg. Der israelische Dirigent Omer Meir-Wellber – der übrigens an diesem Tag sein Konzertdebüt bei der Staatskapelle Dresden gab – hätte sich gar noch eine Pause gönnen können, denn diese den Kapellisten bestens bekannte Kammermusik bekommen die Bläser auch glänzend alleine hin.

Mit Joseph Haydn folgte ein großer Kontrast, und vielleicht doch ein erster Hinweis auf Gubaidulina: besondere Aussage erfordert in der Musik auch besondere Maßnahmen – wer anders als Haydn hat uns dieses Gebot in stets überraschend einleuchtender Weise vorgemacht? Und so folgen in der 49. Sinfonie „La Passione“ einem melancholisch brütenden Adagio drei schnelle Sätze, ist der Ausdrucksgehalt gespannt und in der über das ganze Werk gelegten Tonart f-Moll auf seltsame Weise zwingend. Im Stehen musiziert lehnte sich die Aufführung an alte Tradition an, der süffige, nur im Finale pointiert zupackende Ensembleklang war jedoch im 20. Jahrhundert verortet, und Wellbers Dirigat gab dem Ganzen manchmal einen zu theatralischen, aber dennoch körperlich-agilen Touch.

Nach der Pause öffnete sich der Schmuckvorhang auf der Bühne, denn das Oratorium von Gubaidulina erforderte große orchestrale und vokale Kräfte. Auch in den Proszeniumslogen wurde gesungen, und blaues und rotes Licht sollte wohl Stimmungen befördern, letzteres war aber kaum notwendig. Sofia Gubaidulinas neues, geistliches Werk hat eine derartige Wucht der Aussage, dass man mit den Ohren allein genug Aufgaben erhielt. Sorgfältig hat die Komponistin beobachtet, reflektiert und gesammelt, was unsere Zeit bestimmt. Sie dringt zu tiefen Schichten des Bewusstseins vor, und sie läßt uns an ihrer intensiven Art zu glauben und zu hoffen in einem Kunstwerk teilhaben, das kein vorgefertigtes, abgelesenes, sondern selbst formuliertes, gelebtes Glaubensbekenntnis ist. Diese Auseinandersetzung zu führen ist existenziell, sie muss existenziell sein.

Nein, wir erhalten hier keine Antworten, vielleicht Empfehlungen, aber mehr noch befand man sich beim Zuhören auf einer Reise ins Innere. Das ist mitunter beschwerlich, weil man plötzlich im Angesicht des Klanges mit sich selbst Auseinandersetzungen zu führen hat, aber man befindet sich mit Gubaidulina im Gespräch, da sie stets den Dialog, und damit Spiegel, Verstehen und Verständnis zwischen Redner und Zuhörer zum Thema nimmt. Die Texte werden in russisch, deutsch, später auch in babylonischem Sprachcluster gesungen, und wenn nicht Solist und Chor einen Widerpart bilden, so ist es das Orchester mit den Solisten oder zwei Solisten, die sich gegenüberstehen. Jede Aktion hat eine Wirkung, und bis zum siebten Satz ihres Oratoriums – dem orchestralen „Zorn Gottes“ – ist eine Lösung nicht in Sicht, steigern sich die Klangmassen unaufhörlich.

Vom Angesicht der Kreuzigung über Gebete der Hoffnung und des Trostes bis hin zu den in alttestamentlichen Psalmen wie in neuzeitlichem Alltag sich ausbreitendem Hass, dem Gubaidulina Liebe und inneres Vertrauen entgegensetzt, geht dieser Parcours: kann ein Oratorium aktueller formuliert sein? Trotz der eindeutig christlichen, aus vielen, vielsagenden Quellen gespeisten Aussage fühlte man sich beim Zuhören nicht eingeengt. Die Aufführung geriet vor allem deswegen innerlich aufwühlend, weil Gubaidulina für die Gefühlszustände und menschliche Regungen ebenso einfache wie eindringliche Klangbilder findet: markant ist das immer wieder in neuen Variationen Anrennende, Anbetende, Sehnsuchtsvolle in ihrer Musik von sich nach oben schraubenden Tonfolgen und Motiven.

Gegen Gubaidulinas gerichtsartigen, seltsam übermächtig-geordnet komponierten Gotteszorn, der auf einem erdmächtigen C aller Blechbläser gewaltig endet, sehen manche Zeigefinger-„Dies Irae“ der Musikgeschichte reichlich plump aus. Eruptives Herausbrechen von Gewalt bestimmt das Werk ebenso wie Kontemplation etwa im Hohelied-Duett, wenn Klang und Melodie wirklich eine Liebesverbindung eingehen, wie sie schöner selten komponiert wurde. Das „Einfache Gebet“, Franz von Assisi zugeschrieben, singt der Bassist mit wunderbarer Poetik aus der hinteren Loge, der (Volks-) Chor antwortet mit murmelndem Unverständnis. Die Worte hörten sie wohl, allein es fehlt…?

Die Erstaufführung in der Semperoper wurde von Sängern und Orchester durchweg in Höchstspannung getragen. Das Sängerquartett mit Camilla Nylund (Sopran), Michael König (Tenor), Thomas E. Bauer (Bariton) und Franz-Josef Selig (Bass) gestaltete seine Partien herausragend und bis zum Äußersten auch in der stimmlichen Geste gehend: als Bauer seine Partitur zu den Worten „я ненавижу!   – я ненавижу?“ (Ich hasse! – Ich hasse?“) in den Händen krallte, wurde die Sinnlosigkeit des biblischen Hasses ebenso offenbar wie Gubaidulinas auskomponierter tiefer Zweifel an einer Welt, die längst aus den Fugen geraten ist.  Camilla Nylund hat da im letzten Satz für sphärische Kontemplation zu sorgen, wenn sie in schwindelerregender Höhe die Worte „Atme in mir“ formt, während das Orchester längst in einem Sturmgewölk des Heiligen Geistes aufgegangen ist.

Vielseitige Aufgaben nahm der MDR Rundfunkchor (Einstudierung Nicolas Fink) wahr, wobei hier der a-cappella-Chor „Liebe zu Gott“ nach Versen von Charles de Foucauld sowie die gefestigten, nun von Gubaidulina mit effektvoll eingesetzter Tonalität auskomponierten „O komm, heiliger Geist“-Rufe in der abschließenden Pfingstkantate besonders beeindruckten. Dirigent Omer Meir Wellber hatte die Fäden gut in der Hand und hatte dennoch viel zu tun, um für dynamische Ausbalancierung des an einigen Stellen wild wütenden Orchesterapparates zu sorgen, damit die Solisten nicht zu sehr forcieren mussten.

Von „Über Liebe und Hass“ kann an dieser Stelle keinesfalls Abschließendes berichtet werden, denn die Komponistin äußerte, dass die schaffende Auseinandersetzung mit diesem Werk noch nicht beendet sei. Weiterhin wäre wünschenswert, dass sich nicht nur Musikexperten einer fernen Zukunft mit dem Werk auseinandersetzen, sondern das Werk im Heute weiter aufgeführt und diskutiert wird. Der große Beifall für die dem Konzert beiwohnende Sofia Gubaidulina und die Ensembles war eine Verbeugung vor einer künstlerischen Lebensleistung und einem Werk, das viele Gedanken freisetzt, Konfrontation schafft und zu Haltung, auch zu Taten zwingt. Mehr muss Musik nicht leisten.

(31.10.2016, erweiterte Fassung 1.11.2016 – Foto: (c) Matthias Creutziger)

Ein Audio-Mitschnitt der Uraufführung vom 14. Oktober 2016 in Tallinn ist bei youtube verfügbar. Die Mitwirkenden der Uraufführung waren Aile Asszonyi, Sopran / Mati Turi, Tenor / Atlan Karp, Bariton / Uku Joller, Bass / Estonian Philharmonic Chamber Choir / Chamber Choir Voces Musicales und das Estonian National Symphony Orchestra. Die Gesamtleitung hatte Andres Mustonen, dem das Werk auch gewidmet ist.

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