Glasklar und konzis

Pierre Boulez zum 100. Geburtstag – eine Würdigung im Wiener Musikverein

Der Komponist und Dirigent Pierre Boulez wäre am 26. März 100 Jahre alt geworden. Weltweit gab es an diesem Tag ihm zu Ehren zahlreiche Veranstaltungen und Konzerte, denn sein vielseitiges Wirken strahlt bis heute in die Musikwelt aus. Boulez war 2005 zum Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien ernannt worden, und der Musikverein richtete am  Mittwoch ein Gesprächskonzert mit Weggefährten aus, moderiert von Intendant Dr. Stephan Pauly. Sich diesem Koloss der Musik anzunähern, gelang an diesem Abend auf dreierlei Weise, über die Musik, die Nachzeichnung der Wege seiner Biografie und über persönliche Erinnerungen. Doch schon hier verästelt sich der Zugang zu diesem Künstler vielfach, denn man kann ihn als Komponist und Interpreten würdigen, als Musikforscher, als Initiator und Gründer, als Denker, Pädagogen und sogar Musikphilosophen, und sein aus einem Spiegel-Interview oft zitierter Satz „Reißt die Opernhäuser ein!“ war eigentlich der am meisten missverstandene, wenngleich er zu einem Wesensmerkmal der Persönlichkeit von Boulez führt, das auch einen Werktitel trägt und an diesem Abend ein paar Mal zum Faden im Gespräch wurde: „explosante – fixe“. Das fixierte gegen das Improvisiert-Freie zu setzen, die Regel durch Explosion oder Streuung aufzubrechen, das beschreibt zumindest ein Kontinuum im Interesse von Boulez, das in seinen Tätigkeiten immer wieder Kunst erzeugte, aber auch notwendige Reibeflächen und Widersprüche aufsuchte.

Dieses Interesse ist schon in seinen frühen „Notations“ für Klavier spürbar, die unter den Einflüssen von Messiaen, Varèse oder Jolivet am Ende des 2. Weltkriegs entstanden – das ungestüme Dokument eines Zwanzigjährigen im Raum einer Zeitenwende, die sich musikalisch dann mit Donaueschingen und Darmstadt neue Welten erschloss.  Pierre-Laurent Aimard, einer der wichtigsten und interessantesten Pianisten für die Musik der Gegenwart und gleichzeitig viele Jahre Wegbegleiter von Boulez u. a. als Pianist im Ensemble Intercontemporain, spielte zu Beginn dieses farbensprühende Klavierwerk, das Boulez viele Jahre später für gewichtig genug befand, um es erneut zu einer Orchesterfassung zu befragen, die über eine reine Instrumentationsarbeit weit hinausweist und Klang, Ereignis und Impuls neu interpretiert.

Solcherlei Erkenntnisse über Boulez bekam man in dem abwechslungsreichen Abend im Gläsernen Saal nicht akademisch-trocken, sondern in der Begeisterung der Protagonisten serviert, und es ist schon ein Kunststück, etwa in wenigen Sätzen die 2. Klaviersonate einem ganz sicher nicht in allen Boulez-Dingen sattelfesten, aber neugierigem Publikum so zu servieren, dass man sofort Lust auf mehr bekommt – Aimard baute im mittleren Teil des Abends ein Werk-Mosaik mit Erläuterungen am Klavier, das Schaffenswege von Pierre Boulez skizzierte und in eine Komplettaufführung der 1. Sonate (1946) mündete, ein erstes reifes Statement von Ideenkonzentrat und Sprachfindung des Komponisten.

Dazwischen bekam der in Wien an der mdw lehrende Dirigent Clement Power Gelegenheit, sich der Persönlichkeit von Boulez in Erinnerungen anzunähern. Neben der Bescheinigung einer Art Generösität, die sich auch in einer enormen sozialen Kompetenz etwa am Pult zeigte (obwohl Boulez, auch dies wohl eine innere Notwendigkeit, ebenso ein Einzelgänger und zurückgezogen lebender Mensch war), fiel mehrfach das Wort „consistency“, das im musikalischen Wirken von Boulez wohl am besten mit Folgerichtigkeit und künstlerischer Konsequenz beschrieben werden kann.

Stephan Pauly hob das gleichzeitige machtvolle Wirken der Dirigentengiganten Leonard Bernstein und Pierre Boulez hervor, wobei ein weiteres oft in der Rezeption geäußertes Missverständnis gegenüber Boulez, nämlich ein angenommen strenger, unterkühlt wirkender Zugang zur Musik zur Sprache kam und weniger in verbalen Gegenargumenten aufgelöst wurde, denn in einigen Videozuspielungen mit Musik von Bruckner und Mahler, wobei man mit eigenen Augen prüfen durfte, was die besondere Aura von Boulez ausgemacht hat. „Glasklar“ sei sein Dirigat gewesen, so Daniel Froschauer, der als Vertreter der Wiener Philharmoniker vor allem das Konzertwirken von Boulez (er dirigierte etwa 50 Konzerte mit dem Orchester, beginnend 1992 mit einem Dirigat bei den Salzburger Festspielen) würdigte, sich aber ebenso offen für dessen Kompositionen zeigte – Offenheit sei ohnehin ein Wesenszug des Dirigenten gewesen, der ja spätestens ab den 90er Jahren weltweit eine durchaus auch machtvolle Position der Musikwelt einnahm. Nachdem ihn sein Heimatland als Radikalist erst verstoßen hatte, wusste er – ganz sicher könnte man ihn heutzutage sicherlich als „Influencer“ und Netzwerker bezeichnen – mit für ihn entscheidenden Schritten nicht nur seine eigene Karriere zu befördern, etwa durch den damals ebenfalls als radikal reziperten Einstieg bei den Bayreuther Festspielen im heute nur noch als legendär geltenden Chéreau-Ring, sondern setzte sich mit seiner Offenheit und seinem Befragen der Zustände auch für ein in die Zukunft wirkendes Musikleben ein, etwa mit der Gründung des IRCAM in Paris oder seinem zeitgenössischen Musikensemble Intercontemporain.

Die Offenheit bestimmte auch seine kompositorischen Linien, große Werke wie „Pli selon pli“ oder „Répons“ entstanden über viele Jahre und Fassungen hinweg und offenbaren viele Schichten, Deutungsmöglichkeiten, aber auch die unverwechselbar konzise Art, musikalische Ereignisse in einen Raum zu setzen und passieren zu lassen.  In diesem Sinn war man sich am Podium einig, einen „Diener der Musik“ betrachtet zu haben, mit dem man sich hoffentlich noch lange und in seinem Sinne auch schöpferisch auseinandersetzen wird.

 

 

 


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In anderen Sphären

Das Konzert der Wiener Symphoniker am vergangenen Wochenende im Wiener Musikverein stellte mit Gottfried von Einem, Richard Strauss und Franz Schubert drei Komponisten in den Mittelpunkt, deren Werke ein abwechslungsreiches Programm mit reichlich emotionalem Tiefgang ergaben. Das strahlt teilweise direkt aus den Kompositionen aus, erfordert aber auch damit vertraute Protagonisten, die eben in dieser Tiefe zu schürfen vermögen.Beim neuen Chefdirigenten der Wiener Symphoniker, Petr Popelka, kann man sich sicher sein, dass er sich selbst bei augenscheinlich bekanntem Repertoire mit einer oberflächlichen Darbietung niemals zufriedengeben würde. Interpretation, das sieht man seinem Agieren am Pult an, ist für Popelka sinnliche Arbeit, fragende Beschäftigung, aber auch das lustvolle Herauskitzeln der Qualitäten seiner Musikerinnen und Musiker.

Somit war schon die Begegnung mit Gottfried von Einems Orchestermusik Opus 9 ein Erlebnis, weil Popelka hier auf Farbintensivierung setzte und dunkle und helle Teile der Partitur klar vom Orchester konturierte und voneinander abgrenzte. Das kantige Zupacken bekam dem Stück ebenso gut wie ein gewisses Strömenlassen, wobei Popelka auf das gegenseitige Zuhören setzte.

Sehr zeitnah zu dieser nach dem zweiten Weltkrieg komponierten Musik voller Licht und Schatten setzte Richard Strauss sich im hohen Alter mit den „Vier letzten Liedern“ 1947 noch ein Denkmal. Statt des leichten Capriccio-Tones wendet sich Strauss‘ Tonsprache hier zwar auch in die Retrospektive einer (versunkenen) Musikwelt, doch die Emotionen greifen viel tiefer, erreichen intime Sphären und davon sind sowohl die Gesangslinien als auch die räumliche Orchestergestaltung berührt. Das Vokabular und tiefe Verständnis für diese Musik besitzt die litauische Sopranistin Asmik Grigorian par excellence, und ihre kluge Gestaltung – unter anderem mit einer sehr natürlich wirkenden Tempowahl auch in den Binnenabschnitten – der vier sehr unterschiedlichen Lieder gelang so mühelos und unmerklich, dass man sich auf ihrer Stimme durch die Musik tragen lassen konnte – in Sphären, die irgendwo am Horizont weit hinter den physischen Wänden des Musikvereins lagen, und obwohl Grigorian von ihrer großen Stimme her mühelos ein an-die-Wand-singen beherrscht, lag ihre Kunst hier im forte dolce, das viel strömend und warm wirkt.

 

Petr Popelka breitete Grigorian dazu ein Orchesterbett aus, das bequemer hätte nicht sein können, er suchte immer wieder zarteste Farben und ließ die Solisten an der Geige und am 1. Horn brillieren, aber auch der warme Klarinettensatz oder Schattierungen der Streicher, die stets weich und homogen klangen, veredelten diese Interpretation. Und obwohl Popelka auch die Thielemannsche Kniebeuge für das pianissimo beherrscht, waren diese zurückgenommenen Klänge nie körperlos.

Melancholie und Gedanken des Abschieds waren in den Vier letzten Liedern stark präsent, hingegen schlugen Popelka und Grigorian nach der Pause dann hellere Töne mit drei weiteren, sehr bekannten Orchesterliedern von Strauss an. „Cäcilie“, „Morgen“ und „Zueignung“ gelangen nun als Plädoyer für das Leben und hinterließen ein begeistert applaudierendes Publikum.

Mit sanften und doch klar und bewusst gesetzten Tönen gestalteten die Symphoniker den Ausklang dieses Konzerts – die 7. Sinfonie in h-Moll, die so genannte „Unvollendete“ von Schubert ist ein reichlich bekanntes und gern gehörtes Stück, das seinen Reiz ebenfalls nicht im exaltierten Spektakel entfaltet, sondern in subtilen Klangnuancen. Die wusste Popelka beinahe mühelos mit dem Orchester nach einem fast unhörbar-sphärischen Beginn zu finden und fand mit einem sanft schwingenden Tempo auch einen Schlüssel zur großen Form der beiden Sätze – überzeugend!

 


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Rostropowitsch Gedenken im Musikverein?

Mstislaw Rostropowitsch (1978)

Nein, von einem Rostropowitsch-Schwerpunkt beim Wiener Musikverein ist eigentlich nichts bekannt. Und doch hatten zwei Sinfoniekonzerte, die gerade einmal im Abstand von 24 Stunden im Goldenen Saal stattfanden, vielmehr zufällig gleich zwei Cellokonzerte auf dem Programm, die für den russischen Meistercellisten geschrieben und von ihm auch uraufgeführt wurden. Auf einer alten EMI-CD sind beide Konzerte mit ihm sogar nebeneinander verewigt, und zeitlich entstanden sie um 1969/1970 fast parallel, insofern war der Live-Eindruck nun ein besonderer.

Für solche Stücke braucht es Charaktertypen am Cello – natürlich ist „Slawa“ am Cello unerreicht, erst recht als Persönlichkeit, doch man merkt beiden Stücken an, dass es sich keinesfalls um unpersönliche Etüden oder kompositorische Extrovertiertheiten handelt, im Gegenteil. Trotzdem sind beide höchst unterschiedlich, ich würde aber behaupten, dass diese beiden Konzerte zu den besten des 20. Jahrhunderts gehören.

Da wäre zum einen das Konzert „Tout un Monde lontain“ des Franzosen Henri Dutilleux (1916-1913), ein musikalisch reichhaltiges Gemälde in fünf Sätzen mit viel Literaturbezug. Dutilleux‘ musikalische Sprache ist weit entfernt von einer illustrativen Nacherzählung von den unterlegten Gedichten aus dem Zyklus „Blumen des Bösen“ (Les Fleurs du Mal) von Charles Baudelaire, aber er ist ein Meister im Schaffen von Stimmung und Atmosphäre, im Umschreiben oder Erforschen tieferer Ebenen. Das macht es für den Solisten wie für das Orchester zu einer umfangreichen, sehr anspruchsvollen Aufgabe.

Am Freitag war es der Norweger Truls Mørk, der Dutilleux gemeinsam mit dem ORF Radiosymphonieorchester Wien und dem Franzosen Maxime Pascal zum Klingen brachte, und das war sehr exzellent. Mørk spielte auswendig und hatte mindestens ein Ohr immer „hinten“, wo das RSO darauf bedacht war, den Solisten trotz eines dichten, farbigen Orchesters optimal in Szene zu setzen. Wunderbar zeichnete Mørk mit der Percussion die feine poetische Ebene gleich zu Beginn und gerade die vielen lichten Räume in diesem Konzert, vor allem in „Miroirs“ kostete der Cellist gut aus, immer aufmerksam vom Orchester unterstützt, das sich im 3. Satz und in den „Hymnen“ am Schluss auch einmal zu wirbeliger Lebendigkeit aufschwang.

Damit nicht genug, erbat sich das Wiener Publikum von Truls Mørk eine Zugabe und der spielte gleich ein weiteres Stück, das Rostropowitsch uraufgeführt hat, nämlich einen langsamen Satz aus Benjamin Brittens 2. Cellosuite Op. 80. Das ORF Symphonieorchester gesellte zu diesen Cellowerken ein interessantes „Beiprogramm“, nämlich Arnold Schönbergs 5 Orchesterstücke, Op. 16, die in ihrer Art gar nicht weit entfernt von Dutilleux schienen (und in welchen Maxime Pascal besonderes Augenmerk auf die ganz leisen Töne der „Farben“ legte) sowie Debussys „Images pour Orchestre“, bei denen der französische Schwung noch nicht ganz freilag, auch wenn Maxime Pascal aufwändig motivierte und klare Vorstellungen hatte.

Die EMI-Aufnahme der beiden Rostropowitsch gewidmeten Konzerte

Einen Tag später, anderes Orchester, anderer Cellist, anderes Konzert. Aber mit Witold Lutoslawskis Cellokonzert, uraufgeführt ebenfalls 1970, gerade einmal zweieinhalb Monate nach Dutilleux, erneut ein Rostropowitsch-Stück, das aber ganz andere Herausforderungen bietet und auch in einer selbst für Lutoslawski geschärften und Dissonanz-Welten völlig selbstverständlich einflechtenden Klangsprache. Der Cellist Nicolas Altstaedt spielte ebenfalls auswendig und demonstrierte von den ersten Tönen an, dass er für jede Phrase dieses kantigen Werkes eine klangliche Antwort wusste. Immer wieder entspannen sich Dialoge mit dem Tonkünstler-Orchester im Hintergrund, die eher auf Konfrontation gebürstet waren und viel rhythmische Energie in den Mittelpunkt des Geschehens stellten.

Das Publikum am Sonnabend hatte an der Lutoslawski-Nuss etwas mehr zu knacken, obwohl Altstaedt eine hervorragende, lebendig zupackende Interpretation zeigte. Am Pult war die junge Norwegerin Tabita Berglund die aufmerksame Partnerin für die Begleitung im Orchester, sie hatte aber auch deutlich die Handschrift des Komponisten im Ausdruck geschärft, das zeigten gleich die Blech-Kaskaden zu Beginn und verschiedene flächige Passagen, die sorgsam ausgearbeitet wirkten.

Berglund hatte außerdem noch eine Beziehung zum Vortagskonzert, sie hat nämlich ihre musikalische Karriere als Cellistin gestartet und tatsächlich bei Truls Mørk studiert. Bei ihrer vierten Zusammenarbeit mit dem Tonkünstlerorchester zauberte sie bei den Musikern noch einen saftigen Sibelius-Klang hervor. Die selten zu hörende Tondichtung „Pohjolas Tochter“ Op. 49 profitierte von ihren dynamisch ernstgenommenen, breiten Linien und einer gut dosierten Dramatik, während die 5. Sinfonie Es-Dur nicht ganz diese Tiefe erreichte, was aber auch am Stück liegen mag, denn für meinen Geschmack verhakelt sich Sibelius hier doch ein bisschen viel im Kontrapunkt. Dennoch gibt es auch hier traumhaft schöne Passagen und Tutti-Steigerungen, insbesondere das Finale hatte Berglund wie aus einem Guss gestalten können.

Beide Konzerte bekamen reichen Zuspruch – schön, dass einmal diese Gegenüberstellung der beiden doch sehr eigenwilligen und doch meisterlichen Cellokonzerte des 20. Jahrhunderts gelang.

Fotos: wikipedia commons

 

 

 


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Mahler im Originalklang

Na klar, wieder mal ein typisches Sinfoniekonzert im Konzerthaus, Rachmaninov und Mahler, diesmal von jungen Nachwuchstalenten gespielt. Doch weit gefehlt – genaueres Studieren der Mitwirkenden und des Instrumentariums deutete auf die Absicht hin, ein Konzert im Originalklang der beiden Werke zu geben, was nichts anderes heißt, dass man sich hörend auf eine Reise in die Jahre 1904 und 1911 begab.

Interessanterweise wagen Ensembles sich nun immer weiter ins 20. Jahrhundert vor. Obwohl die Kurve der Innovation und Novitäten in den letzten fünfzig Jahren flacher wurde, sind  dennoch in manchen Instrumentengruppen stetige Weiterentwicklungen – nicht zuletzt aufgrund einer der impulssetzenden zeitgenössischen Musik – zu beobachten. Nicht selten fungieren Ensembles dabei gleich als Spezialisten für Alte Musik UND für Neue Musik gleichermaßen und geben ihren Konzerten dabei besondere Qualitäten hinzu, die das bloße Aufführen und Interpretieren fast zur Nebensache werden lassen.

Das ist natürlich mit viel Arbeit und Hinwendung verbunden, und die Mahler Academy aus Bozen, die im Konzerthaus gastierte, konnte ein solches Projekt stemmen, weil die Mahler und Busoni-Stiftung nach einer Fusion nicht nur junge Talente in Dozentenkursen ausbildet, sondern im Sinne von Claudio Abbado nun auch ein weiteres Gustav-Mahler-Orchester zur Verfügung steht, in dem sich auch noch Akademisten und Spezialisten aus europäischen Spitzenorchestern ebenso wie aus Spezialensembles mischen.

Und was da auf der Bühne am Mittwochabend zu hören war, war teilweise wirklich ein sensationelles Klangerlebnis. Wenn man so etwas macht, dann auch konsequent – so wurde für das 3. Klavierkonzert d-Moll, Opus 30 von Sergej Rachmaninov ein Flügel aus der Zeit der New Yorker Aufführungen dieses Werkes (unter Leitung von Mahler) verwendet. Tatsächlich könnte Rachmaninov darauf musiziert haben, und allein diese Tatsache ließ die Zuhörer die Ohren spitzen. Der Solist Leif Ove Andsnes ist allerdings versiert genug, nicht auch noch Manieren oder Eigenarten von Rachmaninov am Klavier nachzubilden. Das Konzert war ein vollwertiger Andsnes, und daran hatte man ohnehin große Freude, denn seit vielen Jahren ist der Norweger in dieser Musik sehr selbstverständlich zu Hause, phrasiert aufmerksam und bringt ein rhythmisch sensibles, etwas trocken anmutendes Gusto in dieses Stück. Und nein, wir reden nicht über Wein, und ja, „trocken“ kann bei Rachmaninov auch eine handwerkliche Qualität sein, um durch klugen Anschlag und Übersicht im Stück ein Quentchen Distanz aus der ewigen Kitschschleife zu gewinnen.

Dafür bekam Andsnes einen Riesenapplaus, und das Mahler Academy Orchestra durfte hier schon einmal zeigen, was historisch informiertes Begleiten ausmacht – ein silbrig unauffälliger Streicherklang (auf Darmsaiten) war stets kontrastiert von zupackend-obertonreichen Bläsern. Hier fehlte nur im dritten Satz etwas rhythmische Prägnanz im Streicherapparat, und hier und da war der Solist nicht ganz mit dem Orchester zusammen, was aber aufgrund der Lebendigkeit des Zugriffs, die Dirigent Philipp von Steinäcker vom Pult verströmte, verschmerzbar war und im 3. Satz in einen gemeinsam hingejubelten Schlusshöhepunkt mündete.

Vorsichtig verschwand dann der Steinway in der Versenkung des Konzerthauses und wurde wieder im LKW verstaut, denn er tourt mit dem Orchester nun durch halb Europa. Ein wenig nostalgisch dem Klang hinterherhörend konnte man fast bedauern, dass sich nicht öfter einmal Pianisten für eines dieser ehrwürdigen alten Instrumente entscheiden. Es wäre nichts falsch daran – schließlich wählen ja Violinvirtuosen ebenso Instrumente, die bis zu 300 Jahre alt sind, und zwar nicht ausschließlich der Authentizität wegen, sondern aufgrund besonderer Klangqualitäten in bestimmten Werken.

Nach der Pause erklang dann Gustav Mahlers 5. Sinfonie cis-Moll, und weiterhin fühlte man, dass ein dogmatischer Perfektionismus im Originalklangkonzept nicht die Hauptsache war, sondern ein lebendiges Klangforschen vorherrschte, das quasi – so Steinäcker und der mit dem Projekt betraute Musikwissenschaftler Clive Brown in einer Einführung – den Weg zu Mahler neu ebne und kreativ beleuchte. Kürzlich ist bereits die 9. Sinfonie D-Dur vom Ensemble eingespielt worden, und auch die 5. Sinfonie hat schon die Aufnahmesessions im Kulturzentrum Toblach (wo Mahler im Komponierhäuschen seine letzten Werke niederschrieb) hinter sich, insofern konnten sich die Zuhörer im Wiener Konzerthaus an eine bis ins Detail ausgefeilten Darstellung der Sinfonie freuen.

Selbstverständlich hätten Puristen in puncto Balance und Interpretation sofort den Zeigefinger erhoben, aber spannend ist doch erst einmal zu beobachten, was denn durch den neuen Zugang anders möglich ist, das geht ja schon beim Zusammensetzen einer Harmonie in den Bläsern los und endet irgendwo in dynamischen Neuordnungen der Partitur, bei denen man sich aber durchaus fragen könnte, ob man gerade Mahler, der akribisch genau seine Wünsche notierte, eher eben nicht mit modernem Instrumentarium (immer) gerecht wird. Während nämlich allzu sportliche „Modernskys“ (um ein Schönberg-Wort zu zitieren) einen Mahler-Höhepunkt vom Dirigentenpult aus als con tutta forza-Betonblock inszenieren, bieten die alten Instrumente plötzlich die Möglichkeit von hörbarer Binnenpolyphonie und sogar die Schleifer im Adagietto klingen tatsächlich berückend schön.

Dass Philipp von Steinäcker mit unermüdlichem Motivieren und beidhändiger Hinweisgabe das komplexe Werk auswendig hinlegte, war ein zusätzliches Bonbon, um die manchmal auskomponierte unruhig-schwankende Gemengelage gerade in den Mittelsätzen im live-Hören auszutarieren. Und herrlich war es natürlich auch, den vielen Solisten im Orchester zuzuhören, wobei die Horn-Soloplatzierung neben dem Dirigenten im 3. Satz zwar eine nette Geste für den jungen Herrn war, aber im sinfonischen Kontext gerade des Miteinanders und im Hinblick auf den von Mahler intendierten rein symphonischen Gedanken nicht schlüssig wirkte. Nach dem wirklich einmal gehend musizierten, schlackefreien Adagietto legten die Bozener dann auch einen Kehraus hin, der manchmal etwas vogelwild über das Ziel respektive die Partitur hinausschoss, aber sei’s drum: so ein Konzert erlebt man nicht alle Tage, erst recht nicht die jungen Mitwirkenden, die jede Menge wertvolles Futter für ihre Zukunft bekommen haben dürften, der im lau-grauen Hochschul-Übealltag zumeist nicht im Vordergrund steht. Gern mehr davon!

 

 


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Waves Vienna, 2024 Edition

Bereits zum dritten Mal habe ich das WAVES Festival in Wien besucht, das am vergangenen Wochenende an drei Tagen in der 14. Ausgabe stattfand. Aus terminlichen Gründen kam diesmal nur der Freitag als Besuchstag in Frage, was schmerzlich ist, da ich zwei Festivaltage und somit möglicherweise viele spannende Gigs der insgesamt 100 (!) Teilnehmer verpasste. Die Erfahrung aus den letzten Jahren zeigte aber auch, dass man selbst an einem Abend in einen musikalischen Vollrausch geraten kann, weil die Gleichzeitigkeit der Auftritte und die persönlichen Vorlieben (erst recht in Begleitung) zu einer logistischen Höchstleistung herausfordern.

Heißstart am Freitag mit Insan Insan

Also wurde auch in diesem Jahr sorgfältig im Voraus das Programm gecheckt und youtube und instagram nach den interessantesten Bands durchforstet. Das gelingt dank App und mithilfe von Soundschnipseln und Texten zu den Bands vorzüglich (das Line-Up findet sich weiterhin auf der Website von Waves Vienna). Die Venues wiederum sind auch in diesem Jahr wieder in den Clubs am Gürtel wie an einer Perlenkette aufgefädelt, lediglich das B72 erfordert einige Schritte, die aber zum Durchlüften am noch hochsommerlichen Septemberabend in Wien willkommen waren.

Waves präsentierte auch diesmal wieder ein sorgsam breit aufgestelltes, gut kuratiertes Entdeckerparadies und wird sicher seinem Ruf als Sprungbrettfestival für etliche Künstler gerecht. Falls nicht, hatten sie in jedem Fall eine gute Zeit in Wien, das belegen eindeutig die Rückmeldungen der Bands, die neben der reibungslosen Orga auch das neugierige und mitgehende Wiener Publikum lieben. Über die Bandbreite kann ich indes wenig sagen, da wir ja nur einen Ausschnitt mitbekamen, der aber war zwischen Folk, Pop und Punkrock auch schon ordentlich quergestreift und vor allem: handmade.

Lukas Oscar im The Loft

Doch nun in medias res. Der Freitag war so randvoll gepackt, dass wir bei einigen Bands nur kurz durch die Tür schauen konnten, bei den meisten hörten wir aber zwei bis drei Titel, und natürlich blieben wir bei den Favourites länger kleben. Interessant war wieder die Erfahrung, dass die beste Vorbereitung trotzdem Überraschungen birgt, denn manche Bands tischen einem glatt mit jedem neuen Song Stilvariationen auf, was nichts Schlechtes bedeuten muss.

Jiný Metro aus Prag im Loft Wohnzimmer

Los ging es punkt halb acht im Fania Live mit Insan Insan, eine orientalisch gefärbte Popmusik, die eine schöne Atmosphäre hatte. Drüben im Loft freute sich derweil Lukas Oscar (AT) über ein junges Publikum und überzeugte mit seiner wandlungsfähigen Stimme, dafür waren die Lieder eher handlich gebaut. Im Wohnzimmer des Lofts bekam ich gerade noch das letzte Lied von Shalman & Radenkovic, musikalisch war die saftige Weltmusik mit Akkordeon und Geige eine kleine Ausnahme im Waves-Programm.

Tusks (UK) im B72-Nebel.

Dass wir kurz darauf schon einem der Höhepunkte des Abends beiwohnten, konnten wir natürlich nicht ahnen. Gerade kamen wir gestärkt von Hjalte Ross‚ (DK) eigenwillig-tiefsinnigem Songwriting zurück ins Loft, da herrschte gute Laune im dortigen Wohnzimmer: Jiný Metro (quasi „die andere U-Bahn“) kommen aus Prag und ist das Duo der Freundinnen Katie Alžběta Brown und Klára Čmejrková. Das war schöner, innovativer Singer-Songwriter-Folkpop, hier und da mit Ukulele oder Klarinette ausgeziert und mit erfrischender Nervosität vorgetragen. Oh alien im B72 fiel dann einer Pizza zum Opfer, über die wir auf dem Weg stolperten, und irgendwann muss man auch mal kurz durchatmen. Daher bleibt hier nur dieser positive Höreindruck zum Verlinken.

Stattdessen landeten wir bei einer unsterblichen Zwiebel im Carina, Immortal Onion starb dann aber doch aufgrund technischer Probleme, überzeugte uns aber gerade noch mit 1,5 Songs, die mit Saxophon, Bass und Synths ziemlich durch die Wände der U6-Mauern gingen. Im Chelsea mühte sich derweil Comfort (UK) durch wilde queer-punk-Architekturen. Komfortabel war dies keinesfalls, aber wenigstens ziemlich in-your-face.

Da war noch alles gut: Immortal Onion aus Polen im Café Carina

Weiter ging es an Gummibärchen-Goodies und der unvermeidlichen Pizza zurück ins Loft, allerdings hielten wir es bei Yasha 96 (CZ) aufgrund aufkommender Langeweile nicht allzulange aus. Die Langstrecke zurück ins B72 lohnte sich indes, denn Tusks (UK) überzeugte lediglich mit einem Korg bewaffnet solo mit intensiven Songs. Von ihr würde ich gerne mehr hören – auf der britischen Insel ist sie bereits eine gefragte Künstlerin.

Noira (HU) mit Band

Im Loop spielte dann die ungarische Sängerin Noira mit Band auf – mit Trompete und Saxophon in der mehrköpfigen Truppe war es ein auf jeden Fall ausbaufähiges Pop-Erlebnis. Zwei Top-Acts aus unserer Sicht sollten den Abend beenden – in beiden Fällen lösten sie unsere Erwartungen allerdings nicht ganz ein. Bo Milli aus Norwegen dürfte sicher vielen gefallen, es ist ein rhythmisch agiler Mainstream-Pop, der aber schlicht meinen Geschmack nicht traf. Hingegen wollte I hate myself because (Ukraine) mit Garagenpunk überzeugen, doch ging dieser Gig handwerklich daneben und dem Sänger schien seine eigene Treffsicherheit der Töne auch relativ egal zu sein, so dass der Auftritt reichlich hingeschmiert wirkte. Darf auch mal sein, und wurde unsererseits mit einem Besuch im Rhiz beim innovativen Act Modus Pitch (DE) und einem abschließenden Cocktail hinuntergespült.

Parallel zu den Musikdarbietungen war natürlich auch die Conference mit 827 Delegierten wieder ein Zugpferd des Festivals. Die Elektropopband Lucy Dreams gewann den zum achten Mal vergebenen XA-Export Award. Knapp 14.000 Zuschauer verfolgten waves, deren 15. Ausgabe vom 2.-4. Oktober 2025 stattfinden wird. Ich werde dabei sein.

Titelbild: Hjalte Ross, alle Bilder (c) Alexander Keuk

 

 


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Persönlicher Rückblick

„Marek Janowski – Die Möglichkeit einer gewissen Distanz“, ein neues Buch über den Dirigenten Marek Janowski, versammelt sieben ausführliche und persönliche Gespräche und erschien pünktlich zu seinem 85. Geburtstag.

Der Dirigent Marek Janowski feierte am 18. Februar seinen 85. Geburtstag – ein Alter, in dem sich viele Menschen schon lang und berechtigt zur Ruhe gesetzt haben. Dank einer guten Gesundheit und auch mental ungebrochener Fitness ist Marek Janowski weiterhin auf den Bühnen der Welt präsent, kürzlich erst wieder bei der Dresdner Philharmonie zum Gedenktag-Konzert mit Dvořáks „Stabat Mater“. Mit Bedacht hat er erst im letzten Jahr den Chefposten in Dresden niedergelegt, auch um, wie er selbst einmal betonte, einen guten zukünftigen Weg freizumachen für das Orchester in allen seinen Belangen.

Marek Janowski im Kulturpalast Dresden, Foto Björn Kadenbach

Nun ist er ein gern gesehener und vom Dresdner Publikum umjubelter Gast und spricht gewissermaßen natürlich in seinen musikalischen Interpretationen. In den letzten Jahren gab es aber auch einige Gespräche mit dem Journalisten Carsten Tesch, die weiter gingen als ein verabredetes Standard-Interview und über einen längeren Zeitraum und an verschiedenen Wirkungsorten des Dirigenten geführt wurden.

Für das von Claudia Woldt nun herausgegebene Buch „Die Möglichkeit einer gewissen Distanz“ hatten sich zwei Gesprächspartner gefunden, die über das Interesse harmonieren, und man hört Marek Janowski auch an, dass er bestimmte Verläufe in seinem Leben, Zusammenhänge oder auch Phänomene über das Gespräch gerne rekapitulieren oder auch zuspitzen mag. Das bestätigt den Eindruck eines absolut kommunikativen Menschen, den man von Marek Janowski über die Jahre erhält – nicht im Sinne eines Geplappers, das läge ihm denkbar fern, sondern im Sinne einer erhellenden Unterhaltung, die sich auch oft nonverbal in seinen Proben und Konzerten ausdrückt. Die Wahl dieser Form, und nicht einer belletristisch-biographischen Annäherung an die Persönlichkeit Marek Janowski, die es im übrigen schon gibt und ebenso lesenswert ist (Wolfgang Seifert, „Marek Janowski – Atmen mit dem Orchester“, 2010), führt zu Ergebnissen, die zwar in bestimmter Hinsicht auch bekannt sind, was etwa das Handwerk der täglichen Arbeit mit einem Orchester oder mit Partituren angeht, doch Janowskis dezidierter Umgang damit fasziniert auch im Verbalen.

Denn seine nunmehr über sechzigjährige Erfahrung mit dem Korpus Orchester, der ja letztlich aus Menschen und somit vielen gemeinsam schaffenden Individuen besteht, erzeugt Haltungen und Blickwinkel, die weit über ein bloßes Hinstellen und Organisieren der Musik hinausweisen. Schon im ersten Gespräch, das in seiner letzten Chefdirigenten-Wirkungsstätte Dresden stattfand, geht es sehr schnell um psychologische Feinheiten in der Probenarbeit, um Blicke, Kontakte, Gesten und Wirkungen. Vielfach geht es auch im Dirigentenjob um Beziehungen und Entscheidungen, ob nun im Ringen um einen Takt in der Probe oder bei Verhandlungen um Konzerte oder Finanzen. An vielen Stellen blitzt der Politiker Janowski hervor, man fühlt sich aber eher an den Urgrund des Begriffes erinnert, denn Politik beschreibt ja nichts anderes als eine zielführende Regelung eines Gemeinwesens, und mehr als einmal hat Janowski, der beispielsweise beim Orchestre Philharmonique de Radio France über 16 Jahre amtierte, nicht nur zur Reifung eines Klangkörpers beigetragen, sondern auch zuvor oder währenddessen zu dessen Rettung gegen alle möglichen politischen Widerstände.

Dass man zu bestimmten Zeiten und vor bestimmten Menschen, denen offenbar Kultur und erst recht Musik gar nichts mehr galt dann mit einem Orchester, für das man verantwortlich zeichnet und Ziele im Kopf hat, sich wie ein Don Quijote vor den Windmühlen fühlen musste, erlebte Janowski ja nicht zuletzt in seiner ersten Amtszeit in Dresden, als ihm ein vernünftiger Saal für die Philharmoniker ausgeschlagen wurde. Von Resignation sind diese Gespräche jedoch weit entfernt, Janowskis wacher Geist verharrt auch in erinnernden Anekdoten nicht in einer Verklärung, sondern es gibt immer Bezüge zur Gegenwart und Konstanten, die sich auch im Musikalischen niederschlagen, so etwa seine fast magnetisch an- und abstoßende Hinwendung zur Oper, die im Fall Wagner ja beispielsweise in weltweit akklamierte konzertante Ring-Aufführungen mündete.

Und natürlich kommt auch der typisch trockene Janowski-Humor nicht zu kurz, denn mit der Herkunft aus dem Wuppertal der Nachkriegszeit bekommt man nicht nur das Herz auf dem richtigen Fleck mit, sondern auch eine „Schnauze“, die manchmal sehr direkt Dinge formuliert, für die etwa ein Wiener drei Sätze höflichsten Umweg braucht. Insofern ist die Entscheidung, dieses Buch auch als Podcast zur Verfügung zu stellen, nicht nur für Nichtleser spannend, man bekommt sozusagen die Einsichten und Haltungen auch stimmlich unterfüttert, zudem enthält der Podcast zwei zusätzliche Episoden aus Paris und Köln. Zusätzlich zeigen auch die im Buch abgedruckten schwarzweißen Fotos aus den letzten Jahren die Persönlichkeit des Dirigenten auf ganz eigene, intensive Art.

Mit dem Titel „Die Möglichkeit einer gewissen Distanz“ wiederum eröffnet einen ganzen Kosmos bei Janowski, der sich sowohl auf ein Gespräch, eine musikalisch gewinnbringende Arbeit oder schlicht einen interessanten Gegenstand beziehen mag – möglicherweise liegt in dieser Formulierung ein Credo des Künstlers Janowski. Auch dieser Artikel könnte nun sehr lange das neue Buch besprechen und auseinandernehmen, aber hält nun ebenfalls den Appetit in der gewissen Distanz – lesen und hören Sie selbst!

Marek Janowski – Die Möglichkeit einer gewissen Distanz
Schott Verlag Mainz, 1. Auflage, 2024, 178 Seiten, 24,40 Euro

zum Podcast bei Spotify

 

 

 


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Alban Berg im Bild

Sagen wir es gleich im ersten Satz: Das ist so ein Buch, wo ich immer wieder hingreife und blättere und staune und mich einen halben Abend lang hineinträumen kann. Bloß den Review hatte ich noch nicht geschafft, aber da kann ich mich auch kurzfassen, weil es schlicht am besten ist, das Buch in seinem Regal zu haben. Ich gehe noch einen Schritt weiter: in dieser Art würde ich mir gerne von vielen Komponisten im Wortsinn „ein Bild machen“, denn oft steht natürlich in der musikwissenschaftlichen Zunft viel Text über noch viel mehr Noten im Mittelpunkt und wenn die Bücher überhaupt einen Bildteil haben, wird er verschämt in den Anhang gefügt.

Doch die Alban-Berg-Stiftung in Wien, für die Daniel Ender hier als Autor diesen Band zusammengestellt hat, verfügt gottlob über mehr als 4000 Bilder aus dem Nachlass und den ehemaligen Wohnräumen von Alban Berg. Ein Material, das hier in einer spannend zusammengestellten Auswahl über fünf Jahrzehnte reicht und Berg sowohl als zweijährigen Bub als auch in seinem letzten Lebensjahr 1935 zeigt.

Der bibliophile Bildband aus dem Böhlau-Verlag setzt somit auch die fotografischen Einblicke in das Leben des Komponisten, die mit „Zuhause bei Helene und Alban Berg“ begonnen wurden, sinnvoll fort. Auch hier wird behutsam (denn Ender verzichtet hier auf den visuellen Eindruck störende größere Textblöcke oder Bildanalysen) und fast privatim eine visuelle Biografie des Komponisten nachgezeichnet. Neben einigen ikonischen Fotos gibt es auch viele bislang nirgends veröffentlichte Bilder zu sehen.

Zudem erhält man Seite für Seite auch Einblicke in die Entwicklung von Mode, Gesellschaft und Fotografie, wobei das Porträt eine besondere Stellung einnimmt, denn in dem Band sind auch Zeichnungen und Malereien (sowie Fotos von Mal-Sitzungen, siehe Titelbild des Bandes) abgedruckt. Einige ausgewählte Fotos sind auch in starken Vergrößerungen abgedruckt, so werden viele Details und Geschichten in den Bildern erst sichtbar.

Berg selbst fotografierte ebenfalls und seine Begeisterung für die Technik läßt sich auch an dem Humor einiger Passbild-Automaten-Fotografien ablesen – Fotografie war nicht zuletzt auch ein besonderes Vergnügen, ein Posieren und In-Szene-Setzen. Man lernt beim Betrachten viel über die Persönlichkeit von Berg im Kontext etwa von Fotos mit Musikerkollegen oder im Kreise von Freunden und Familie. Am intensivsten wirken jedoch einige späte Bilder des Komponisten allein, die auch nicht inszeniert wirken.

Alban Berg im Bild Fotografien und Darstellungen 1887-1935
Autor: Daniel Ender
Verlag: Böhlau Wien, 280 S., 45 €
ISBN:978-3-205-21766-4

 

 


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Was ist das?

Porträt-CD „Pure Bliss“ von Sara Glojnarić bei Kairos erschienen

 

Die Überschrift ist mit Absicht gewählt. Es ist der bei mir – leider nurmehr recht selten auftauchende –  Satz, der beim ersten Hören eines Stückes Irritation und gleichzeitig Interesse beschreibt. Es kann natürlich sein, dass diese Entdeckung nur für mich Gültigkeit hat und sozusagen ein geheimes Interesse ist (wir sind ja bei zeitgenössischer Musik ohnehin immer in der Nische-Nische unterwegs), aber im Fall von Sara Glojnarić (geb. 1991) zeigt schon das Line-Up auf ihrer Porträt-CD, die vor wenigen Wochen bei Kairos erschienen ist, dass ihre Musik von renommierten Ensembles und Solisten gespielt wird. Ihre musikalischen Erkundungen, die offenbar nicht nur bei mir das „Was ist das?“ entlockten, sorgten bereits für die Verleihung von Musikpreisen wie den Förderpreis der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung oder den Erste Bank Kompositionspreis (2022). Letzterer hat nun auch die Produktion der CD ermöglicht, auf der sich sieben Vokal- und Ensemblestücke der letzten Jahre  finden.

Die aus Zagreb stammende Komponistin, die u.a. in Stuttgart bei Martin Schüttler studiert hat, stellt in ihren Stücken viele neue Fragen, die einige Türen und vielleicht auch (vermeintliche) Meta-Ebenen öffnen. Manches liegt da offen auf der Hand, wenn man etwa die Fähigkeiten der Musker, die (Lebens-) Umgebung oder das Denken der Interpreten und der Komponistin selbst – denn sie schließt eine Selbstreflektion und –recherche in ihren Werken nicht aus – mit in den künstlerischen Prozess einbezieht. Man landet dann bei einer Art gesellschaftlich-kontextualisiertem Komponieren, wobei der Spannungsfaden bei Glojnarić für mich auch darin besteht, wie diese breite Öffnung, etwa in Richtung Pop-Kultur, Sport oder Psychologie in den Rahmen einer von Entscheidungen abhängigen, werkartigen Komposition gelangt.

Manche dieser eben angesprochenen Türen öffnen sich auch erst nach dem vollen Durchleben eines Stückes von Glojnarić. Diese verlangen eine oft extreme Ausführung und Konzentration, ein „groteskes Level an Virtuosität“, wie etwa in „Latitudes“ für präpariertes Klavier und Tape, wo die Pianistin Magdalena Cerezo Falces sich nicht nur um „Bestmarken“ einer Annäherung zu kümmern hat, sondern ähnlich wie im Sport Wiederholungen und präzise Temposchleifen meistert. Ist das noch Musik, ist das Spiel oder gar Ernst? Es ist genau dieser Zwischenraum der Atemlosigkeit, den Glojnarić erforscht, und der interessanterweise in der Klanglichkeit – in #Latitude #2 wird etwa ein gewöhnliches Percussion-Set als Basis benutzt – sehr konzentriert wirkt, damit etwa formale, rhythmische und algorithmische Prozesse in den Vordergrund rücken.

So klingt „sugarcoating #4“ für Orchester (eingespielt vom ORF Symphonieorchester unter der Leitung von Marin Alsop) in der Repetitionswut seiner Phrasen seltsam nackt, aber ebenso auch unerbittlich in seiner Pulskonzentration. Es geht Glojnarić auch um Gesten und Idiome, die „dick aufgetragen“ eben in einen Bereich vorstoßen, in dem nach einer ersten Überwindung (womit wir auch wieder beim Sport sind), neue Erfahrungsbereiche möglich sind. In den Stücken mit Stimmen, die sie Artefacts nennt, werden neue Ausdrucksbereiche durch Nostalgie und Nachahmung erschlossen. Die  Neuen Vocalsolisten zeigen da einen sehr besonderen Umgang mit Tradition und Erinnerung, indem sie charakteristische Stimmen aus Vorlagen von Popsongs (erneut) herstellen und in neue Beziehungen setzen.

Das einzige Manko der CD-Form ist ein wenig, dass man mitkomponierte Video-Ebenen der Stücke nicht sieht, somit auch nicht die Arbeit oder auch die extreme Leidenschaft der Musiker beim Exerzitium – dafür hält aber die Website von Glojnarić wie auch einige youtube-Ergebnisse Möglichkeit zur Ergänzung bereit.  Schließlich fragte Glojnarić  in „Pure Bliss“ („reine Glückseligkeit“), das auch der CD den Titel gab, nach musikalischen Gänsehautmomenten der Musiker des Klangforums Wien und formte aus den Antworten eine extrem gedehnte Soundlandschaft, in der das Ensemble wiederum zum Aktivum der Gegenwart wird. Das ist bewegend und in gewissem Maße auch aufrüttelnd, weil Sara Glojnarić die gewesene Musik eben nicht im Praeteritum ver- oder zerfallen läßt, sondern sie in einer Art klingendem Gedächtnis zurückholt. Hörenswert.

Sara Glojnaric, Pure Bliss, Sarah Maria Sun, Leonie Klein, Dirk Rothbrust, Magdalena Cerezo Falces, Neue Vocalsolisten, Klangforum Wien, Ensemble Mosaik, ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Tim Andersen, Magnus Loddgard, Marin Alsop, Label Kairos, 2023

 

 

 


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Hängende Gärten, Spieluhren und Resonanzräume

Das Klangforum Wien spielte sein 3. Zykluskonzert im Konzerthaus Wien

Das dritte Konzert des Zyklus Klangforum Wien im Wiener Konzerthaus bot wie auch die vorherigen Abende eine Menge Abwechslung. Neben Klassikern des 20. und 21. Jahrhunderts hat das Spezialensemble für zeitgenössische Musik immer wieder Entdeckungen auf der Agenda oder übernimmt neue Werke als Erstaufführungen in Wien. Letzeres galt gleich für den eingangs dargebotenen Liederzyklus „Das Buch der hängenden Gärten“, Op. 15 von Arnold Schönberg. Obwohl es in einer frei-suchenden Schaffensphase von Schönberg zwischen Spätromantik und Zwölftonmusik angesiedelt ist, sind Aufführungen recht rar, was möglicherweise an der im letzten George-Gedicht heraufbeschworenen Atmosphäre der „überwölkten und schwülen Nacht“ liegt , die wie ein Flor über den ganzen Zyklus gebettet scheint. Das allein stellt schon in der originalen Klavierfassung eine Herausforderung dar – wie trifft man diesen porzellanesken Ton, ohne an Kitsch, Nostalgie oder gar Unterspannung zu schrammen?

Vielleicht war dies auch eine der Aufgaben, die sich der österreichische Komponist Richard Dünser 2010 stellte, als er entschied, den Zyklus für Kammerorchester zu instrumentieren und somit die „hängenden Gärten“ tatsächlich auch im Klang zu kolorieren. Dünser geht mit Bedacht zwischen Linie und Harmonik an die Instrumentation heran, versucht aber auch Eigenheit einzubringen, wie es sicher auch im „Verein für musikalische Privataufführungen“ gern gesehen worden wäre. Die Sopranistin Magdalena Anna Hofmann zeigte mit ihrer wandlungsfähigen Stimme viele Schattierungen der Musik, die zwischen einem fast am Sprechen und Raunen entlangzeichnenden tiefen Register und ab und an auffahrender Dramatik in großen Linien pendelt, aber nie den liedhaften Rahmen verläßt. Darum wussten auch die Musiker des Klangforum Wien, die unter Leitung des seit vielen Jahren am Pult des Ensembles geschätzten Sylvain Cambreling eine feine Kammermusik zelebrierten, die eben genau den Raum für Poesie ließ, am schönsten war dies in den zentralen Sätzen neun bis elf zu verfolgen, in der sich Natur und Liebe zu intensiven Gedankenbildern vermengen.

Das zweite Werk des Abends im Mozart-Saal  waren die „Canti per 13“ aus dem Jahr 1955 von Luigi Nono. Nun ist natürlich die Meisterschaft des Komponisten unbestritten, allerdings wirkte sowohl die Platzierung des Stücks nach diesem großen Zyklus unangenehm, und es gab auch trotz der sicher kompetenten, teilweise sehr phonstarken Interpretation keine Signale, warum man dieses staubtrockene serielle Stück Musik der Schublade wieder und wieder entreißen sollte. Natürlich darf man auch einmal Studien und Experimente präsentieren, allerdings stand dieses Stück in seiner Blutleere in unpassender Nachbarschaft. Möglicherweise hätte ein musikalischer Rahmen, der Abstraktion und Serialismus intensiver befragt hätte, mehr Erkenntnisse gebracht.

Nach der Pause ging es mit einem erstaufgeführten Werk von der in den USA lebenden britischen Komponistin Hannah Kendall weiter. Die Werkeinführung im Programmheft hinterließ einige Rätsel zur Herkunft der Komponistin und ihrem Bezug zu Plantagenarbeitern (von wo und wann auch immer), die offensichtlich im Stück eine Rolle spielten. Trotzdem war das Stück stark genug in seiner Eigenwirkung und gehört zu einer ganzen Reihe von Kompositionen, die heute in der zeitgenössischen Musik starke Brückenfunktionen hin zu gesellschaftlich-sozialen Themen einnehmen. Klänge werden so zu Botschaftsträgern, Symbolarchitekturen, die nicht für sich selbst stehen, sondern hinter der Musik stehende Prozesse und Zustände (ansatzweise) aufdecken, so dass man als Zuhörer stark gefordert ist, sich damit auseinanderzusetzen. Manchmal allerdings reichen solche Werke auch nicht über eine Art Betroffenheitskunst hinaus, das war hier gottlob nicht der Fall, weil die Komponistin, eine sinnliche Art fand, mit Historie und Gegenwart innovativ und spielerisch umzugehen und die Grenze zur Performance fast schon liebevoll geschrammt wurde, vermutlich aus der Sorge vor dem Banalen. Doch gerade ihr Umgang mit Spieluhren und der dazu gesellte Ensembleklang verriet sorgfältiges Aushören und führte tatsächlich zu spannungsvollem Hinhören.

Das stellte sich auch recht unmittelbar im finalen Stück des Abends ein – Beat Furrers Konzert für Klavier und Ensemble ist relativ klar in seiner Absicht formuliert, einen klingenden Resonanzraum für das Soloklavier zu erforschen und zu bespielen, dazu findet Furrer räumlich griffige und rhythmisch prägnante Figuren und eine knappe, dennoch füllige Gesamtarchitektur, die das Stück quasi als Wurf erscheinen lassen: das musste raus, und zwar genau so und nicht anders. Etwas unklar blieb mir die stark metallisch getönte Schlag-Ebene des Stücks, die eben andere Obertonwelten hervorruft als die der (natürlich ebenfalls metallischen) Saiten des Flügels, aber vielleicht ging es dem Komponisten genau um diese Bandbreite zwischen nicht mehr „musikartigem“ Geräusch und den vielfältigen Nachschwingvorgängen des Tasteninstruments. Joonas Ahonen stürzte sich am Klavier (mit Florian Müller am „Schattenklavier“ im Ensemble) mit Lust und Können in diese Aufgabe, Sylvain Cambreling entlockte dem Klangforum massige, ausdrucksstarke Klänge. Großer Beifall des zahlreich erschienenen Publikums belohnte die Musiker und machte schon wieder Lust auf den nächsten (bereits ausverkauften) Zyklus-Abend (17.1.2024), der dann komplett dem Komponisten Beat Furrer gewidmet ist.

 

 


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Umjubelte Aufführung, bedeutende Ehrung

Gestern abend fand eine denkwürdige Aufführung der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ an der Wiener Staatsoper statt. Der Satz könnte fast eine Floskel sein, denn die Oper allein ist so riesig, dass man kaum einmal ohne eine denkwürdige Aufführung in jeglicher Hinsicht entlassen wird. Steht dann noch Christian Thielemann am Pult und ist ein so exzellentes und auf das Stück perfekt passendes Sängerensemble am Start, und wird dann auch noch der Dirigent zum Ehrenmitglied des Hauses ernannt, so ist das Prädikat denkwürdig mehr als angebracht.

Die Oper wurde als Wiederaufnahme in der Inszenierung von Vincent Huguet (Premiere 2019) gezeigt, und nach diesen laschen Bildern hätte ich mir lieber eine konzertante Darbietung gewünscht, da das Hauptaugenmerk sowieso auf Stimmen und Orchester liegt. Oder die bunte Inszenierung von rosalie, damals an der Semperoper, dirigiert noch von Giuseppe Sinopoli, da wurde man wenigstens auch visuell in ein Märchen entführt. Doch mit luxuriösem Blick aus der Seite des 2. Rangs in den Orchestergraben ausgestattet, konzentrierte ich mich schnell auf die auditiven Höhenflüge dieser Aufführung, und was das Staatsopernorchester mit Thielemann da anrührte, war exzellent, lustvoll, in ständiger Hochkonzentration und natürlich immer mit und für die Sänger in Balance gebracht.

Dementsprechend – bevor ich hier zur Pressemitteilung der Ehrung überleite – gab es schon nach den ersten beiden Akten großen Jubel, und musikalisch war diese Darbietung in ihren leisesten und lyrischsten ebenso wie in entfesselten Passagen phänomenal. Krasse Bläserchoräle, die Cello- und Violinsoli im 2. und 3. Akt zum Niederknien schön gespielt und dazu ein (stehend-sitzend-liegendes) Sängerensemble, das sich dank der Regieverweigerung voll auf die Stimmen konzentrieren konnte und im Schlussquartett noch immer mit voller Kraft stürmte. In vielen Aufführungen haben sich Orchester und Dirigent über Jahre natürlich auch so dermaßen gegenseitig vertrauend in das Stück vertieft, dass hier Nuancen und Balancierungen möglich waren, die man kaum je in diesem Werk vernimmt, weil oft bei der bloßen Organisation der Klangmassen zumeist das Ende der Gefühle erreicht ist. Insofern: pures Glück, wer am Sonnabend dabei war (die live übertragene Radiosendung ist noch eine Woche verfügbar, siehe unten).

Die Staatsoper teilte heute mit: „Mit lang anhaltendem Jubel wurde am gestrigen Samstag, 14. Oktober 2023, die Wiederaufnahme von Richard Strauss’ Die Frau ohne Schatten an der Wiener Staatsoper gefeiert. Im Beisein des Publikums versammelten sich nach der Vorstellung neben den Solisten wie Elza van den Heever (Kaiserin), Andreas Schager (Kaiser), Elena Pankratova (Färberin), Michael Volle (Barak) und Tanja Ariane Baumgartner (Amme) auch zahlreiche weitere Mitwirkende und Weggefährten auf offener Bühne, wo der Dirigent des Abends, Christian Thielemann, zum Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper ernannt wurde.

Die Ehrung wurde von Staatsoperndirektor Bogdan Roščić vorgenommen, anschließend überreichte Theresia Niedermüller, Sektionsleiterin für Kunst und Kultur im BMKÖS, dem Dirigenten die entsprechende Urkunde. Außerdem erhielt der den Ehrenring der Wiener Staatsoper aus dem Hause Juwelier Wagner.

Der Direktor der Wiener Staatsoper Bogdan Roščić gratulierte: »Christian Thielemann hat an der Staatsoper seit vielen Jahren einen ganz besonderen Platz und ist ihr in besonderer Weise verbunden – nicht zuletzt durch seine so enge Beziehung mit dem Orchester, sowohl auf den wichtigsten Konzertpodien der Welt wie auch im Graben der Oper selbst.«

Anschließend ergriff Thielemann selbst das Wort: »Mit kaum einem Opernhaus bin ich so eng verbunden wie mit der Wiener Staatsoper. Ich habe dort unvergleichliche Abende erlebt. Ich fühle mich sehr geehrt, für mein Wirken nun die Ehrenmitgliedschaft und den Ehrenring zu erhalten.«

Christian Thielemann debütierte 1987 mit Così fan tutte an der Wiener Staatsoper und dirigierte hier in weiterer Folge u. a. Premierenproduktionen von Tristan und Isolde, Hänsel und Gretel und Die Frau ohne Schatten, eine Musikalische Neueinstudierung von Die Meistersinger von Nürnberg sowie den gesamten Ring des Nibelungen.

Mit der Wiederaufnahme von Die Frau ohne Schatten am 14. Oktober stand er bei seinem 59. Staatsopern-Abend am Pult. In dieser Spielzeit wird Christian Thielemann noch bis 24. Oktober mit Die Frau ohne Schatten sowie im April/Mai 2024 mit der Premierenproduktion von Lohengrin zu erleben sein.“

 

Pressemitteilung, der Wiener Staatsoper

* Die Aufführung wurde live vom ORF im Radio übertragen und ist in der Ö1 Mediathek noch sieben Tage anhörbar.

 

 

 


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