Dresdner Kreuzchor begeistert mit Czernowin-Uraufführung zur Eröffnung der „Tage der zeitgenössischen Musik“
Dass eine kulturelle Veranstaltung später beginnt als angezeigt, weil der Andrang an der Kasse unerwartet stark ist, kommt zuweilen vor. Ungewöhnlich und gleichzeitig erfreulich ist dies, wenn es sich bei der Veranstaltung um neue Musik handelt. Der Intendant des Europäischen Zentrums der Künste in Hellerau, Prof. Udo Zimmermann, begriff diesen Vorgang als positives Zeichen für den neuen Kunst-Ort Hellerau und zeigte sich stolz, die diesjährigen 20. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik mit einem vollbesetzten Festspielhaus eröffnen zu dürfen. Auf dem Programm dieses ersten Konzerts stand ein einziges, abendfüllendes Werk: „Pilgerfahrten“ der israelischen Komponistin Chaya Czernowin. Dass das Publikum am Ende noch stark applaudierte, als schon die Protagonisten längst die Bühne verlassen hatten, liegt wohl an der beeindruckenden Gesamtleistung der beteiligten Ensembles. Das Werk ist für Knabenchor, einen Sprecher und Instrumente konzipiert, man darf das Stück zum schwersten rechnen, was je in zeitgenössischer Musikliteratur für Knabenchöre geschrieben wurde. Der Dresdner Kreuzchor gestaltete eine professionelle, in allen Punkten überzeugende Interpretation, die von den starken Leistungen einzelner Solisten im Chor über verschiedenste Klang- und Geräuschaktionen bis hin zu großen Cluster-Ballungen reichte. Czernowin legte dem Werk einen Doppeltext zugrunde, zum einen ein Gedicht von Stefan George, zum anderen eine Geschichte von Tove Jansson, dessen „Mumin“-Kosmos in skandinavischen Ländern durch Bücher und Comics bekannter ist als hierzulande. Dabei hatte die Komposition fast filmische Züge: die Geschichte des Muminvaters,
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der dem Geheimnis der Hatifnatten (eine Art Troll) auf die Spur kommt, entpuppt sich angesichts der Parallelwelt von Stefan Georges Gedicht als Gleichnis eines Suchenden in der Welt. Die kompositorische Beschäftigung mit der Identität des Individuums ist nicht nur eine stets aktuelle, zutiefst zeitgenössische Frage, mit der Entscheidung für einen Knabenchor wurde sie auch konsequent auf die musikalische Ebene übertragen. Die in der Irre kreisenden Boote der Hatifnatten, die Naturgewalten, die Fragen nach Sehnsucht und Geborgenheit wirken im Extrakt von Czernowin menschlich, es wird ein oratorisches Gleichnis daraus, in welchem der Kreuzchor und das hervorragend spielende „ensemble courage“ unter der Gesamtleitung von Roderich Kreile zum Schöpfer atemberaubender Stimmungen wird. Dass diesem zeitgenössischen Klanggemälde eine harte Probenarbeit vorausging, merkt der Zuhörer kaum – konzentriert und klangstark sitzt jede Phrase, schlagen Stöcke auf den Boden, wabern Glissandi durch den ganzen Chor. Mit dieser Leistung auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik dürfte der Dresdner Kreuzchor konkurrenzlos sein. In dem für diese „Konzertsituation“ mit einer großen Tribüne eingerichteten Festspielhaus klingt die Musik direkt und körperlich, der akustische Eindruck dieses erstmals in solcher Form bespielten Hauses ist hervorragend. Axel Thielmann (Sprecher) erzählte in intensivem Sprachfluss die Rahmenhandlung, die vom Chor und den Instrumenten in bewegende Klangbilder umgesetzt wurde. Die Lichtregie von Claus Guth hielt sich vornehm zurück: die Kraft der Musik wirkte nahezu von selbst. Czernowin weiß außerdem mit musikalischen Mitteln hauszuhalten, prägnante Motivik und deutliche Instrumentalfarben (Posaunen, Schlagwerk) strukturieren das Werk sinnfällig, dabei ist ihre musikalische Sprache immer charaktervoll und fällt nie in illustrative Naivität ab. Am Ende blieb eine zauberhafte, mit lichten wie düsteren Momenten ausgestattete Atmosphäre eines Märchens sowie die Erkenntnis, einem spannenden neuen Werk begegnet zu sein, stark haften.
Ah! Da ist er ja, der versprochene Mumin-Eintrag! 😉