Zur Uraufführung der 9. Sinfonie von Alfred Schnittke
Vor neun Jahren verstummte eine der wichtigsten kompositorischen Stimmen des 20. Jahrhunderts, der russische Komponist Alfred Schnittke, der zuletzt in Hamburg lebte und lehrte. Der schwerkranke Schnittke schrieb seine 9. Sinfonie im Sommer 1998 kurz vor seinem Tod, ein Uraufführungsversuch zu Lebzeiten des Komponisten misslang. Nun hat der russische Komponist Alexander Raskatov (*1953) die Sinfonie rekonstruiert, sie wird am Sonnabend von der Dresdner Philharmonie in der Frauenkirche in Anwesenheit der Witwe, Frau Irina Schnittke, uraufgeführt. Alexander Keuk sprach mit Alexander Raskatov.
Wenige Werke haben bereits vor ihrer Uraufführung eine so bewegte Geschichte erfahren wie die 9. Sinfonie von Alfred Schnittke – weshalb erleben wir erst jetzt die Uraufführung dieses wirklich letzten Werkes des Komponisten?
A.R.: Schnittke war schwerkrank, er hatte bereits mehrere Schlaganfälle hinter sich. Er war zum Teil gelähmt und schrieb die Noten der neunten Sinfonie mit links, mit zitternder Hand. Vor seinem letzten Schlaganfall, an welchem er 1998 verstarb, hatte er bereits ein Manuskript der Neunten angefertigt – mit klarer Schrift und in ganz anderer Stilistik. Er verwarf diese Skizzen und schrieb das komplette Stück neu. Es liegen drei komplette Sätze vor. Schnittke gab das Stück dem Dirigenten und Freund Gennady Rozhdestvensky zur Uraufführung – dessen bearbeitete Version, die er vom Rundfunkmitschnitt abhörte, missfiel ihm aber. Bald darauf starb Schnittke und es war ein großes Anliegen der Witwe, Irina Schnittke, dass seine letzte komponierte Musik wieder aufgeführt werden kann. Der Komponist Nikolai Korndorf begann die Noten zu rekonstruieren, starb aber 2001, dann fragte mich Irina Schnittke, ob ich mich der Sinfonie annehmen könnte. Später erhielt die Sinfonie von mir den Beinamen „Es muss sein“ – damit weise ich auf Schnittkes starken Willen zur musikalischen Äußerung auch in seinem letzten Lebensabschnitt hin.
Jedes Werk von Schnittke ist einzigartig und vielschichtig, die Folge seiner neun Sinfonien läßt sich nicht thematisch in eine Reihe bringen. Was kennzeichnet diese letzte Sinfonie?
A.R.: Die Sinfonie ist ein komponierter Abschied vom Leben. Schnittke wusste, dass es mit ihm zu Ende geht, doch dieser Mann hatte eine unglaubliche kreative Kraft, auch bei den schicksalshaften Schlaganfällen, die ihn vorher ereilten entwickelte Schnittke unglaublich produktive Phasen, in denen Orchesterwerke und in den 90er Jahren auch Opern entstanden. Am Ende war der Körper kaum noch zum Überleben fähig, aber die Hand schrieb stetig weiter die Noten.
Wie gingen Sie an diese schwierige Arbeit heran? Das Wissen, ein musikalisches Vermächtnis zu betreuen, erfordert eine große Verantwortung.
A.R.: Dieser war ich mir bewusst und ich lege Wert auf die Feststellung, dass dies die 9. Sinfonie von Schnittke ist, nicht eine Bearbeitung von Raskatov, die Noten lagen ja fertig vor, sie mussten „nur“ in eine aufführbare Form gebracht werden. Ich habe mir für die Arbeit eine spezielle Lupe gekauft. Zunächst begann eine Analyse, dann habe ich mit verschiedenen Farben sichere und zweifelhafte Passagen markiert und quasi die Sinfonie mehrfach nachgeschrieben, in immer mehr freigelegten Schichten. Ich habe 2003 begonnen, die Arbeit hat also vier Jahre gedauert. Es war wichtig, bei der Rekonstruktion der Noten ein Gefühl des Stiles und der Absicht der Musik zu entwickeln, in dem Bewusstsein um den speziellen, charakteristischen Klang von Schnittkes Musik. Beispielsweise gibt es in Schnittkes Manuskript kaum Angaben zu Tempo und Dynamik, dies habe ich behutsam mit der stetigen Vorstellung, wie es Schnittke gemeint haben könnte, ergänzt. Es gab auch emotionale Prägungen während der Arbeit, man beschäftigt sich in dieser Partitur zwangsläufig mit der musikalischen Artikulation von Tod oder Jenseits und ich glaube, Schnittke entwickelte in dieser Sinfonie eine Idee des „Verschwindens“, des Abschiednehmens, dies scheint mir in der Musik sehr deutlich.
Erklärt das die fast kammermusikalische Struktur des Werkes?
A.R.: Ja, es ist fast eine Art Kammersinfonie. Schnittke hatte sicher nicht die Absicht, äußerlichen Erfolg mit dem Stück zu haben – es ist nahezu „effektfrei“ und ein sehr ernstes, nach innen gerichtetes Werk. Überdies ist es mit dem Gedanken des Abschieds fast monothematisch und steht damit im Kontrast zu Schnittkes früheren, oft doppelbödigen Werken, in denen Gegensätze und Infragestellungen eine große Rolle spielen.
Also hört man eine große Konzentration, eine Zurücknahme aller äußerlichen musikalischen Dekorationen?
A.R.: Es ist eine Art Freiheit, die Schnittke am Ende seines kompositorischen Schaffens auslebte, die Stimmen des Orchesters verlaufen in klarer Polyphonie. Es gibt keinen Impressionismus in dieser Sinfonie, es ist kein Orchestergemälde, sondern eine Zeichnung.
Diese Direktheit der musikalischen Sprache, die in ihrer Kargheit dennoch nicht „leicht“ vom Hörer zu fassen ist, führt vielleicht zur Seele von Schnittkes Musik, diese 9. Sinfonie ist in gewisser Art eine „ausgezogene“ Musik, bei der Arbeit spürte ich oft die sehr spezielle Energie des Werkes, die sprachähnlichen Charakter hat.
Im Konzert wird außerdem ein Stück von Ihnen, Herr Raskatov, uraufgeführt, „Nunc dimittis“, für Singstimmen und Orchester. In welcher Beziehung steht das Werk zu Alfred Schnittke?
A.R.: Mein Stück wurde zwar im Voraus als eine Art Finalsatz zur Neunten angekündigt. Doch „Nunc dimittis“ ist von der Sinfonie zu trennen, maximal würde ich es als imaginären Epilog zu bezeichnen. Ich schrieb das Stück „in memoriam Alfred Schnittke“ und verwendete Texte von Joseph Brodsky, einem der Lieblingsdichter Schnittkes, und des russischen Heiligen Siluan. Außerdem enden viele Sinfonien Schnittkes mit einem langsamen Satz, aber ausgerechnet die Neunte endet mit einer Art „Presto“. Deswegen weist mein langsamer Epilog noch einmal auf diese Finali hin.
Die Zusammenführung geistlicher und profaner Themen in einem Werk wäre ja auch eine Hommage an Schnittke, der ja beiden Welten in seinen Kompositionen gleichberechtigten Raum gab, zudem singt das Hilliard Ensemble im Konzert Motetten von Guillaume Machaut, und weist somit auf die Tradition hin, die für Schnittke Reibungsfläche und Bedingung für die Entstehung neuer Werke war.
A.R.: Alfred Schnittke war ein sehr gläubiger Mensch, aber die weltlichen Themen integrierte er ebenso. Er war quasi polykulturell, nicht nur aufgrund seiner Herkunft, sondern auch in seinen vielen Interessen denen er nachging. Die Frage von Identität und Tradition war immer wichtig für ihn.
Welche Bedeutung hat Schnittke im heutigen Russland? Er gehört ja zu einer ganzen Reihe russischer Komponisten, die im Westen leben bzw. gelebt haben?
Es ist eine sehr komplexe kulturelle Situation im gegenwärtigen Russland. Schnittke ist als großer Komponist anerkannt und wird oft gespielt, vor allem auch seine vielen Filmmusiken, von denen man hier nur wenige kennt. Doch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich im kulturellen Leben Russlands vieles verändert, die Komponisten sind nicht so gut vernetzt wie früher, und manche mussten schon aus finanziellen Gründen emigrieren. Schnittke wäre auch gerne zurückgekehrt, aber dies verhinderte vor allem seine Gesundheit. Ich habe die Befürchtung, dass die jüngere Generation russischer Komponisten sich immer weniger mit der Tradition und der russischen Kultur identifizieren. Es darf keine Uniformität entstehen und es ist niemals ein gutes Zeichen, wenn die intellektuellen Größen das Land verlassen.
Dennis Russell Davies wird die Uraufführung von Schnittkes 9. Sinfonie leiten. Inwieweit wird das Werk noch im Probenprozess gestaltet oder möglicherweise verändert?
Es gibt manche Details, in denen z.B. durch eine Unlesbarkeit mehrere musikalische Lösungen möglich sind, das wird in den Proben deutlich werden. Aber die Geschichte dieser Sinfonie startet ja jetzt erst. Ich bin froh, dass diese bisher ungehörte Musik Schnittkes nun erklingen wird und weitere Aufführungen sind bereits mit dem Bruckner-Orchester Linz [am 30.6. in Linz/A] und der Juilliard School geplant.
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Sa 16.06.2007 20.00 Uhr, Frauenkirch]
Guillaume de Machaut: Motetten
Alfred Schnittke: 9. Sinfonie (Uraufführung), Rekonstruktion des Manuskripts von Alexander Raskatov
Alexander Raskatov: Nunc dimittis – in memoriam Alfred Schnittke (Uraufführung)
The Hilliard Ensemble
Elena Vassilieva, Mezzosopran
Dresdner Philharmonie, Leitung Dennis Russell Davies
Sehr interessantes Interview. Danke! 30.6. in Linz. Das könnte ich ja direkt schaffen.
Ich habe von Schnittke erst wirklich gehört, als ich 1980 das erste Mal in Moskau war, vorher war er mir praktisch unbekannt, auch wenn sein Name manchmal erwähnt wurde. Ich bilde mir ein, dass mein Vater einmal bedauernd gemeint hat, dass er bei uns nicht aufgeführt würde. (Das war vor 1980) Möglicherweise hat das Ensemble Kontrapunkte etwas von ihm gebracht.
Aber Nikolai Medtner habe ich auch erst in Moskau durch Alexander Satz kennengelernt. (Siehe dort gegen Ende).
P.S. Wie geht es denn dem Rachmaninoff? 🙂