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Gomorrha, später am Tag

Ein Schlag mit der gestreckten Hand auf die schimmernde Wasseroberfläche würde vollkommen ausreichen, dachte er. Sein Handstreich würde alles, alles neu ordnen, endlich. Beginn und Ende zugleich. Alles auf einmal. Er gestikulierte. Noch sah er, am Straßenrand auf dem Bürgersteig kauernd, die sorgfältig verlegten Pflastersteine im Wasser vage vibrieren – das sich am Gulli stauende Regenwasser war seltsam klar und er wunderte sich über seine eigene, momentane Gedankenklarheit, die ihm erlaubte, die Pflastersteine durch das Wasser zu erkennen. Er hatte diese Stelle an der Bundesstraße auserkoren für seine persönliche Revolution, seine eigene, einzige, größte, schönste. Es regnete auch nicht mehr, so dass keine Tropfen den kleinen See vor ihm aufwühlten. Er rutschte auf seinen Knien nah an die Wasseroberfläche heran, sah regungslos und ohne eine Gefühlsveränderung bemerkt zu haben in sein faltig-knöchernes, von unzähligen geleerten Flaschen gezeichnetes Gesicht. Das Wasser geriet auf einmal ganz leicht durch den Wind in Bewegung und der Wasser-Spiegel verzerrte in einer Art, die ihm augenblicklich Angst machte. Ein riesiger Schmerz kam da plötzlich aus dieser erbärmlichen Gesichtspfütze, den er nicht verstand, aber der ihm durch alle Glieder fuhr. Er richtete sich kurz mit dem Oberkörper auf und stieß ein mattes Grollen aus, den Kopf in den Nacken geworfen und die Augen zum vollends bedeckten Himmel gerichtet. Dann versuchte er sich zu beruhigen. Ein Schlag, ein Schlag würde genügen. Es wäre das Ende von allem, der Beginn von allem, Schluss mit der verdammten Sauferei, nie wieder Graben in Mülleimern, um nach Pfandgut zu suchen, das ihm zu seinem Schnaps verhalf. Ende, Anfang, Scheiße. Er grinste sein Konterfei an. Gedanken oder Gefühle entwickelten sich nicht mehr, er wartete auch nicht mehr drauf, sie fuhren Karussell mit ihm, Runde um Runde, seit Jahren, wenn er einen Gedanken hatte, rotzte er ihn aus, mehr nicht. Er fuhr mit ihnen Karussell, nein, sie mit ihm. Scheißegal, er würde es nun tun. Er schaute noch einmal hoch zum Himmel. Er würde zuschlagen, die flache Hand auf das Wasser, er würde dem verfickten Herrn Pflasterstein und auch der gnädgen Frau Hure Pflasterstein unter der Wasseroberfläche zeigen, dass er nun mit der Scheiße aufhören würde, entgültig. Er richtete sich noch einmal auf, atmete tief ein, drehte den Kopf, spie zur Seite aus. Bloß nicht in die Pfütze. Dann kniete er in seinen Lumpenklamotten fast wie ein demütig Betender am Rinnstein nieder und blickte tief in sein Konterfei in der Pfütze. „Mit mir nicht!“ schrie er laut, drohend und plötzlich, zeigte mit der einen Hand auf die kotzarmselige Spiegeltype im gestauten Regenwasser, patschte mit einem Ausholschwung mit der anderen Hand flach auf die Oberfläche und verlor das Gleichgewicht. Er rutschte vom Bürgersteig in den Rinnstein, blieb bäuchlings im Regenwasser liegen und hob den Kopf. Aus der Käferperspektive sah er vor sich den Unterboden eines parkenden Autos. Rechts der Bürgersteig, unerreichbar wie das Leben selbst. Er senkte zweimal kurz die Augenlider wie zur Bestätigung dieses Taufvorgangs, legte die Hände neben den Kopf und fing an nach links zu robben, auf die Bundesstraße. Ganz langsam, aber mit einer entsetzlichen Entschlossenheit schob er seinen ausgelaugten, nassen Körper aus der Unsichtbarkeit zwischen den parkenden Autos am Straßenrand. Die Augen starr auf das Pflaster gerichtet, einen Streifen Wasser als Spur hinter sich herziehend, hörte er sich selbst zwischen seinen Zähnen weiterknirschen, „nnnniiiiiicht…..mmmmmir……nnnnrrr“, bis seine eigene Stimme, die bereits mit diesen drei Worten Amok lief, von einem irrsinnigen Quietschen von Autoreifen abgelöst wurde.

Oben teilten sich Wolken.

(Mein Februar-Beitrag aus der Schreibwerkstatt

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