Unter dem Motto „Glanzvolles Sachsen“ wird am kommenden Sonnabend das Orchester der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen mit Arien und Konzerten von Hasse, Graun, Quantz, Mattheson und Händel in der Frauenkirche gastieren. Mit dem britischen Dirigenten, Festspielleiter und Spezialisten für alte Musik Nicholas McGegan sprach Alexander Keuk.
Herr McGegan, Sie sind seit 19 Jahren Intendant der Göttinger Händel-Festspiele, leiten seit über 20 Jahren das Philharmonia Baroque Orchestra, Sie haben über 100 Aufnahmen herausgebracht, macht Ihnen Barock-Musik eigentlich noch Spaß?
Ja, absolut! Es gibt noch so viel wundervolle Barockmusik zu entdecken. Ich habe zum Beispiel erst die Hälfte von Händels 40 Opern aufgeführt. Vor kurzem habe ich Aufnahmen von Vivaldis Opern gehört, die wundervoll und sehr dramatisch sind. Bach hört niemals auf, mich zu begeistern. Und ich bin mir sicher, dass sich meine Interpretationsansätze immer weiter entwickeln werden.
Wenn Sie einmal spontan antworten, welches musikalische Ereignis ihrer Laufbahn war für Sie prägend, wovon profitieren Sie heute noch?
Dies ist wirklich eine schwierige Frage, da es mehrere Ereignisse gab. Eines war zweifellos während meiner Studienzeit, als ich in einem Orchester unter der künstlerischen Leitung von Benjamin Britten gespielt habe. Wir gaben Elgars „Der Traum des Gerontius“ und ich spielte die erste Flöte. Eine weitere Situation war, als ich meine erste Bach Passion auf einem Originalinstrument gespielt habe.
Die Aufführungspraxis alter Musik hat eine enorme Entwicklung hinter sich. Sind wir schon beim „Optimum“ angekommen?
Natürlich hat sich die Art und Weise, auf Originalinstrumenten zu spielen, in den vergangenen 40 Jahren verändert. Heutzutage ist der Stil vielleicht nicht mehr so „gekünstelt“ und das Wissen um die Technik ist viel umfangreicher. Aber Kunst ist ja nicht wie Wissenschaft. Es gibt keine endgültige oder richtige Antwort in der Kunst. Interpretationen sind immer eine Sache der persönlichen Sichtweise. Ich hoffe, dass die Aufführungen, die ich mache, in zehn Jahren genauso anders sind wie diejenigen, die ich vor zehn Jahren gemacht habe. Die Historische Aufführungspraxis kann nicht wirklich eine spezifische Aufführung aus einem anderen Jahrhundert nachahmen. Alle Menschen, die daran teilhaben, bringen ihre eigene Persönlichkeit mit ein. Es gibt auf der ganzen Welt keine zwei Sänger, die sich wie Klone gleichen. Je mehr wir aber natürlich über Aufführungen aus der Vergangenheit wissen, desto besser.
Ihr Festspielorchester in Göttingen ist ein kleines „Bayreuth“ der alten Musik. Ist es eher leichter oder schwerer, mit so vielen Spezialisten und Individualisten zusammenzuarbeiten?
Die Arbeit mit einem Barockorchester, das aus Spezialisten für Alte Musik aus über zwölf verschiedenen Ländern der Welt besteht, ist eine absolute Freude. Jeder von Ihnen ist sehr flexibel und ich freue mich in gleicher Weise über jeden Vorschlag, der von ihnen gebracht wird, wie sie umgekehrt meine Interpretation akzeptieren. Häufig kommen die Orchestermitglieder noch nach Proben zusammen, um Folk Musik aus ihren verschiedenen Ländern zu spielen: Polkas aus der Slowakei, spanische Songs, sogar texanischen Two Step.
Barockmusik ist doch eigentlich „leicht“ zu spielen, jeder Instrumentalschüler wird mit Barockmusik anfangen. Wie erreicht man die besondere Qualität Ihrer Aufführungen?
Ehrlich gesagt ist nicht jede Barockmusik einfach zu spielen. Denken Sie an die Cellosuiten von Bach oder einige Arien von Händel. Manche mögen technisch leichter sein als Liszt oder Boulez, aber sie sind in der Interpretation genauso herausfordernd. Auf eine Art ist es sogar schwieriger, weil die Komponisten weniger Hinweise geben, mit denen Du arbeiten kannst: In der Barockmusik muss man z.B. seine eigenen Verzierungen hinzufügen und seine eigene Dynamik entwickeln. Ich finde, dass die Musik von Bach und Händel eine so große Tiefe hat, dass eine Interpretation immer eine große Freude und zugleich eine große Herausforderung darstellt.
Ich habe Bekannte, die können mit Barockmusik gar nichts anfangen, sie dudelt nur im Hintergrund. Was würden Sie ihnen raten? Welches Stück sollen sie einmal hören oder wie erschließt man sich die Welt der Barockmusik?
Sie stellen wirklich schwierige Fragen. Es gibt viele Stücke, die jemanden, der zum ersten Mal mit Barockmusik in Kontakt kommt, inspirieren können. Bachs Brandenburgische Konzerte oder Händels Wassermusik natürlich: Ihr Klang ist brillant mit einem tänzerischen Rhythmus, einem guten „Beat“, wenn Sie so mögen. Das gleiche gilt für Vivaldi Konzerte. In der Vokalmusik sind es z.B. Arien von Händel, von denen es heute so viele Aufnahmen gibt. Sie können direkt ans Herz gehen.
Sie sind auch bekannt für viele Entdeckungen und Erstaufführungen, aber auch für Experimente mit Szene und Tanz. Ist das Barockzeitalter offen für gewagte Interpretationen? Oder erliegt man nicht eher der Gefahr, dem „äußerlichen“, der Ornamentik zu huldigen?
Ich denke, dass Barockmusik offen ist für alle Arten der Interpretation und Inszenierung. Aber man muss ein Gefühl für die Musik haben. Zu oft sind Regisseure zu ignorant und eitel. Ihr Konzept ist wichtiger als das des Komponisten. Glücklicherweise gibt es ja aber auch gute Regisseure, die einen modernen Inszenierungsstil haben und gleichzeitig die Musik verstehen.
2009 habe ich eine Händel-Oper aufgeführt, die von Doris Dörrie inszeniert wurde, eine meiner bislang aufregendsten Produktionen. Es macht großen Spaß mit Doris zu arbeiten und das Ergebnis war spektakulär. Etwas Ähnliches ist passiert, als ich mit dem Choreographen Mark Morris in den USA zusammengearbeitet habe.
Genauso faszinierend ist es aber auch, eine barocke Inszenierung zu realisieren, besonders, wenn Tanz eine Rolle spielt. Hier stammen der Stil der Produktion und die Gesten des Tanzes aus der gleichen Welt wie die Musik. Solche Produktionen funktionieren besonders gut in kleinen Theatern wie denen aus der Barockzeit. Wie auch immer, man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass es die Aufgabe ist, das Publikum zu unterhalten und nicht ihnen etwas rein Akademisches zu präsentieren.
Es gibt gerade in England viele Spezialisten für alte Musik – Parrot, McCreesh, Hillier, um einige Kollegen zu nennen – auch in den Interpretationen gibt es schon eine „englische“ Handschrift, teilen Sie diese Meinung? Oder sind die Engländer gerade in den Tempi einfach sehr lebendig?
Obwohl ich gebürtiger Engländer und auch so sozialisiert bin, habe ich doch über 25 Jahre in Kalifornien gelebt. Deshalb denke ich, dass mich meine englischen Kollegen nicht länger als einen der ihren sehen oder meinen, dass ich auf eine englische Art und Weise handle. Wenn ich Purcell dirigiere, versuche ich natürlich genauso englisch zu sein wie sie. Aber bei anderer Musik bin ich eher ein Einzelgänger. Schließlich lebe ich im „Wilden Westen“. Und was die Schnelligkeit der Tempi anbelangt, sind einige von den jüngeren Dirigenten aus Franreich oder Italien sogar schneller als die Briten. (Es muss am Espresso liegen!)
Wie schätzen Sie das barocke Musikleben in Dresden ein, wie gewichtig war der Anteil der Dresdner Hofkapelle und der Komponisten an der Entwicklung der Musik?
Dresden war eine der wichtigsten Städte für Barockmusik. Ich denke, dass diese Bedeutung in unserer Zeit zu langsam erkannt wurde, besonders bei den Musiklabels. Es gibt so viele CDs von Bach und Händel, aber es gibt erst seit kurzer Zeit Aufnahmen von Hasse oder Zelenka. Dresden kann sich wirklich glücklich schätzen, dass es hier einige wundervolle Ensembles für Alte Musik gibt, die viel dafür tun, um für das reiche musikalische Erbe der Stadt zu werben. Ich wünsche ihnen viel Glück.
Warum muss man dennoch für manche Komponisten (etwa Heinichen oder Hasse) immer wieder viel Empathie aufbringen? Ist der Schatten von Bach und Händel zu groß? Oder haben wir die Musik einfach zu lange vergessen?
Persönlich habe ich eine sehr hohe Meinung von Hasse und Heinichen. Es ist wirklich eine Schande, dass es so wenige CD Aufnahmen von Hasses Opern gibt. Er war ein wundervoller Komponist für Sänger. Ganz besonders mag ich sein Oratorium „Die Bekehrung des heiligen Augustinus“. Ein fabelhaftes Werk. Heinichens Konzerte sind brillant und sehr vergnüglich.
Sie bringen nach Dresden barocke Cleopatra-Musiken mit – warum hat dieser antike Stoff die Komponisten so sehr angesprochen?
Cleopatra war schon immer eine faszinierende Frau für Musiker wie Autoren. Shakespeare sagt, sie war eine Frau von unbegrenzter Vielfältigkeit. Sie hatte zweifellos ein leidenschaftliches Leben mit keinem langweiligen Moment, daher ist sie die ideale Figur für Opern. In diesem Konzert haben wir verschiedene Arien aus Opern zusammengebracht, die unterschiedliche Phasen ihres Lebens betrachten. Zwei Opern, Händels „Giulio Cesare“ und Grauns „Cesare e Cleopatra“, handeln von ihrem frühen Leben und ihrer Liebesaffäre mit Julius Cäsar. Die Opern von Hasse und Mattheson erzählen von ihrer Liebe zu Marcus Antonius und ihrem Selbstmord.
Im italienisch geprägten Dresden gab es immer auch ein Stelldichein der besten europäischen Instrumentalvirtuosen – ist es gerade dieses italienische Vorbild, was so fasziniert? Ist das ariose, virtuose barocke Konzert eine kleine Revolution in der ansonsten kirchlich geprägten Zeit?
Die meisten barocken Höfe in Deutschland waren kulturell von Frankreich oder Italien geprägt. Dresden und Würzburg waren vielleicht am stärksten „italienisch“. Man kann eventuell sagen, dass Cleopatra ein „freier Geist“ war, deren Leben sich sehr von dem Leben unterschied, das die Kirche propagierte. Cleopatra hat keinen ihrer Liebhaber geheiratet und sie war vielleicht am Mord ihres Mannes beteiligt, der gleichzeitig ihr Bruder war.
Sie haben schon mehrfach in der Frauenkirche dirigiert und dort auch Händel-Oratorien aufgenommen. Ist es für Sie ein authentischer Ort? Welche Atmosphäre des Musizierens stellt sich dort ein?
In der Frauenkirche zu musizieren ist wundervoll. Der akustische Nachhall ist für die Texte der Vokalmusik ein bisschen schwierig, aber der Klang ist herrlich. Und ganz eigennützig formuliert, ich habe als Dirigent einen tollen Blick auf den Altar und die Orgel.
Wäre Dresden nicht auch ein geeigneter Ort für barocke Festspiele? Oder wäre das eine eher fragwürdige Reanimation vergangener Zeiten?
Dresden wäre ein wundervoller Ort für ein Barockfestival. Es gibt so viele schöne Orte, an denen man Aufführungen machen könnte, kirchliche und weltliche Orte. Auf all dies kann die Stadt sehr stolz sein. Ich hätte dabei sicher nicht das Gefühl einer Disneyisierung der Stadt.
Sonnabend, 20 Uhr, Frauenkirche Dresden
Arien und Concerti von Georg Friedrich Händel, Georg Philipp Telemann, Joachim Quantz und Johann Adolph Hasse
Dominique Labelle Sopran
Brian Berryman Flöte
Orchester der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen
Leitung Nicholas McGegan
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