Cellist Alban Gerhardt schenkt den Dresdnern „Bach im Bahnhof“
Es ist Rush Hour im Dresdner Hauptbahnhof, am Tag vor dem Feiertag nachmittags um halb fünf. Die Zeit drängt, die Menschen sind damit beschäftigt, von A nach B zu kommen. Die Kuppelhalle im Hauptbahnhof ist ohnehin ein wenig verengt – Werbeaufsteller, Stände und eine Fotoausstellung säumen den Weg zu den Zügen. Für gute vierzig Minuten jedoch bekommt die Halle eine akustische Veredelung. Der Berliner Cellist Alban Gerhardt, sonst in den Konzerthäusern der Welt zu Hause, initierte selbst die Reihe „Bach im Bahnhof“, telefonierte sich bei der Deutschen Bahn durch, um in mehreren Großstädten die Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach spielen zu dürfen – ohne Bühne, ohne Gage, ohne Hut, mitten im Alltag der Leute.
Gerhardt will die Musik zu den Menschen bringen, für einen kleinen Moment des Innehaltens sorgen, an einem Ort, wo die Sinne normalerweise nur dafür gebraucht werden, um das Ankommen und Abfahren zu koordinieren. Alban Gerhardt hat an diesem Tag schon im Leipziger Hauptbahnhof gespielt und reist – selbstverständlich – mit dem Zug an. Es braucht nicht viel Vorbereitung: der Verstärker ist ausklappbar, ein Stuhl steht bereit. Ein unauffälliges Plakat kündigt die Spontandarbietung an, aber solange kein Ton erklingt, hasten die Menschen vorbei. Gerhardt nimmt Platz zwischen zwei großen Werbeplakaten, links wirbt die Dresdner Philharmonie, rechts ein Erotikhandel. In Gerhardts Rücken erkennt man hinter den Scheiben eines Restaurants schemenhaft Menschen, die auf der Durchreise einen Imbiss einnehmen.
Dresden bekommt die beiden Moll-Suiten, Nummer 2 und 5 zu Gehör – es sind intime Stücke, die nicht zuerst mit barocker Strahlkraft auftrumpfen, mehr von melancholischer, nachsinnender Art geprägt sind. Gerhardt schließt die Augen und Bach strömt durch die Kuppelhalle, vermischt sich mit der Wolke der Alltagsgeräusche im Bahnhof. Ab dem ersten Ton verändern sich Raum und Zeit auf merkwürdige, beglückende Weise, wenn auch nur für eine Momentaufnahme: Bach erreicht die Menschen und sie gelangen zu Bach. Manche nehmen in den Sekunden des Vorübereilens nur ein kleines Motiv mit, andere bleiben länger stehen und lassen die Musik auf sich wirken.
Gerhardts intensivem Spiel kann man sich kaum entziehen. Nur wer sich per Kopfhörer schon der akustischen Außenwelt entledigt hat, eilt auch an Gerhardt teilnahmslos vorbei. Der Cellist seinerseits läßt sich auch nicht von einem rumpelnden großen Gepäckwagen irritieren, den eine Frau genau vor ihm durch die Halle schiebt. Die Traube der Zuhörer wächst beständig – am Ende gibt es Applaus und auf vielen Gesichtern ein Lächeln. Gerhardt verschwindet nicht sofort, sondern kommt mit den Besuchern ins Gespräch, nimmt Dank entgegen und stellt fest, wie klein die Welt am Hauptbahnhof ist – ein australisches Ehepaar auf Besuch in Dresden hatte hatte den Cellisten erst vor kurzem im Konzert in Perth gehört. Als Gerhardt dann mit Koffer und Cellokasten zum Bahnsteig aufbricht, um noch am selben Abend am Berliner Hauptbahnhof zu spielen, ist er in der Menge ein Reisender wie jeder anderer. Doch einigen Menschen hat er – samt Johann Sebastian Bach – an diesem Nachmittag ein wertvolles Geschenk gemacht.
Kommentaren