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Wild

Offenbar ist 2016 nicht unbedingt mein Jahr des Kinos, erst zum zweiten Mal habe ich in dorthin gefunden. Man könnte auch sagen, das Kino hat mich erst zwei Mal gefunden, denn natürlich lese ich viel über neue Filme, aber kaum etwas spricht mich an, so dass ich in meinem Notizbuch nur eine spärliche LUF (Liste ungesehener Filme) führe. Doch „Wild“ (Heimatfilm Produktion) sprang mich an, als ich durch Zufall davon las – er schien sofort zu sagen, hier, komm, das ist dein Film. Nicolette Krebitz (Bandits, Jeans, Tatort) war mir ein Begriff und ich konnte daher zumindest vermuten, dass der Film sich nicht lange bei einer „Faszination Wolf“ im National Geographic Style aufhalten würde.

Ich lag richtig. Ania (Lilith Stangenberg) ist eine Mittzwanzigerin im IT-Business, die aber – aus welchen Gründen, verrät der Film nicht – ein etwas vereinsamtes, von Sehnsüchten geprägtes Leben im Plattenbauviertel führt, sie hat sich offenbar länger schon nach innen zurückgezogen, ein Lächeln erscheint selten in ihrem Gesicht. Auf ihrem Arbeitsweg sieht sie am Rand eines Wäldchens eines Tages einen Wolf. Und ab diesem Zeitpunkt ist nichts mehr, wie es vorher war. Nahezu in der Stimmung einer großen ersten Liebe, die unglaubliche Kräfte, aber auch irrationale (das Wort ist im Filmzusammenhang mit Vorsicht zu genießen) Wünsche freisetzt, beschließt sie, fortan mit dem Wolf zu leben.

Dafür verwandelt sich ihre Wohnung in einen „Bau“, und da müssen Job, Gewohnheiten und zwei Kaninchen dran glauben. Was sich aber ab der ersten Begegnungsszene auftut, bleibt in Krebitz Regie intensiv, der Film ist ein stiller Thriller, der gottseidank nicht zu sehr in Absurdität oder Horror driftet, allerdings auf dem 20.15-Sendeplatz auch nicht zu finden sein dürfte, denn Krebitz Szenen sind wuchtig und direkt. Als Zuschauer erliegt man sehr bald dem Filmtitel – es ist wirklich „wild“, was sich da abspielt. Ania ‚verwolft‘, verwildert, steigt nach und nach aus der Zivilisation aus, die auch im Film kaum noch eine Rolle spielt – der Ex-Chef erleidet das Schicksal, nicht im 2er-Rudel geduldet zu sein, die Wohnung ist bald kein Ort zum Leben mehr, eher zum Vegetieren.

Also geht es hinaus – ja, in eine Form von Freiheit, die Krebitz aber auch nicht unkommentiert läßt (was ich nicht wörtlich meine, der Film lebt vom Bild und vom Ausdruck, nicht vond er Sprache, die sehr spärlich eingesetzt ist), denn die Ver-rücktheit der Dinge zeigt sie mit dem Kamerablick noch, als Wolf „Nelson“ (der komplette Film wurde mit einem echten Wolf eines ungarischen Tiertrainers gedreht, das Rudel war bei den Drehs stets dabei) mit ihr an der Leine – nicht umgekehrt – durch den Tagebau in Sachsen-Anhalt hetzt.

Der Film hinterläßt mich einigermaßen sprachlos, wenngleich ich ihn hier natürlich beschreiben kann, aber es ist auch sehr schwierig, ihn zu bewerten, da jede Form von Kritik im Pool der Irritation landet, den Krebitz hier sehr raffiniert anlegt. Dafür hat sie auch eine grandiose Hauptdarstellerin gefunden, die 27-jährige Lilith Stangenberg bricht von der ersten Minute an die Distanz zum Film oder Thema völlig auf. Wer idealisierende Tier-Menschelei im Kino sehen möchte, lasse den Film besser aus. Näher liegt „Wild“ beim Thema ‚Tier im Mensch‘, wobei am Ende auch die Frage stand, ob eine männliche Sicht auf das Thema genau so oder anders ausfallen würde.

Mehr zum Film:
* „Die mit dem Wolf wohnt“ – Dkultur Audio
* „Wölfe kommen überall hin“, Rezension Süddeutsche
* Schnuppern, Kratzen, Lecken – Zeit Online

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Veröffentlicht in Rezensionen

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