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Nahrung für die Seele

Boston Symphony Orchestra und Andris Nelsons gastieren bei den Musikfestspielen

Er ist einer der aufregendsten Dirigenten unserer Zeit: der 37-jährige Lette Andris Nelsons war im Gespräch für den Chefposten bei den Berliner Philharmonikern, wird ab der Saison 2017/2018 Gewandhauskapellmeister in Leipzig und wird dies mit seiner derzeitigen Tätigkeit als Chef des Boston Symphony Orchestra vereinbaren, mit dem er am Freitag bei den Dresdner Musikfestspielen zu einem umjubelten Konzert in der Frauenkirche gastierte. Nelsons wurde nach dem Konzert mit dem Glashütte Original MusikFestspielPreis ausgezeichnet und spendete die damit verbundenen 25.000 Euro Nachwuchsförderprojekten an seinen Wirkungsstätten in Riga, Boston und Leipzig.

„Es ist meine starke Überzeugung, dass Musik ein fundamentales Recht für die Menschen ist oder Nahrung für unsere Seelen, wie ich es schon oft beschrieben habe.“, sagte Nelsons in einer kurzen Ansprache des Dankes. Was er in Boston in nur zwei Spielzeiten an inniger Verbindung aufgebaut hat und wie diese Seelennahrung sich in einer Interpretation Bahn bricht, davon konnten sich das Publikum vorab in der Frauenkirche überzeugen. Mit Gustav Mahlers 9. Sinfonie D-Dur (1910) stand ein monumentales Bekenntniswerk auf dem Programm – da hätte es Max Bruchs „Kol Nidrei“ für Cello und Orchester kaum mehr bedurft, das in der Gegenüberstellung wie ein perfekt in Szene gesetztes Stimmungsbild wirkte.

Dennoch konnte man sich am Schönklang laben, den der Solist und Intendant der Dresdner Musikfestspiele Jan Vogler mit dem Orchester und der achtsamen Begleitung durch Nelsons zelebrierte. Da Bruch dem Cello nur spärliche Tupfer im Orchester hinzufügt, hat der Solist viel Freiraum zur Entfaltung. Jan Vogler nutzte diesen nicht zum übertriebenen Sentiment, sondern für sanft daherströmenden Gesang, für den es reichlich Applaus gab. Innerlich umschalten musste man dennoch zwischen den beiden Werken, denn bei solch eingängiger Demonstration melancholischer Melodien würde es nicht bleiben, das weiß jeder, dem das Werk von Gustav Mahler bekannt und lieb ist.

Mit einer Aufführung der 9. Sinfonie huldigt man sicher auch keinem Geschmack oder Entspannungsbedürfnis des Publikums. Vielleicht ist ein nachvollziehender Respekt die beste Beschreibung für Andris Nelsons grundsätzlicher Haltung zu diesem Werk: im großartig ausformulierten 1. Satz tritt der Dirigent quasi gemeinsam mit Mahler einen langen Weg an, der in den Atem nehmenden letzten Passagen des Ersterbens dieses Werkes sein Ende nimmt. Da ist man bereits in anderen Sphären angelangt, und dieser Weg war ebenso faszinierend schön wie abgründig bitter und traurig im Hören nachzuverfolgen. Hatte man sich einmal an die ungewohnte Aufstellung mit wie an der Schnur aufgereihten Bläsern im Altarraum und den Streichern im Kirchraum gewöhnt, so war es vor allem die Intensität der Farben, die immer wieder neu aus der Musik herausschimmerte.

Die präzise intonierenden und auf den Punkt genau zusammenfindenden (was in der Frauenkirche wahrlich für Gäste nicht leicht ist) Musiker nahmen Nelsons mehr zeichnendes als malendes Dirigat vollkommen verstehend ab. Was in den ersten beiden Sätzen sich noch kraftvoll mit den Füßen auf dem Erdboden abspielte, gewann in der Burleske an Transzendenz, aber auch berstender innerer Spannung – eine solche Intensität und Wärme der großen Streicherpassagen im finalen Adagio hat man so wohl noch nie gehört, und von den vielen den Charakter der Musik völlig erfassenden Soli etwa von Flöte, Englisch-Horn und Horn kann man nur ins Schwärmen geraten. Nach den letzten sich in der Kuppel verlierenden Tönen setzte eine lange Stille ein, die man, durch stetigen Satzapplaus eines offenbar unkundigen Publikums gestört, vorher schmerzlich vermisst hatte. Dann aber wurden die Bostoner und ihr Chefdirigent für dieses atemberaubende Musikerlebnis gefeiert.

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Veröffentlicht in Rezensionen

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