Gennady Rozhdestvensky mit Schostakowitsch-Sinfonien im Sonderkonzert der Staatskapelle Dresden
Mit der Floskel „Dirigentenlegende“ sollte man sicher keine Artikel beginnen, und doch liegt einem letzteres doch auf der Zunge, und es ist sicher nicht allzu entfernt von der Wahrheit, wenn mal allein in den heimischen Plattenschrank mit unzähligen Klassikaufnahmen östlicher Herkunft, versehen mit der Aufschrift „melodiya“ und „Gennady Rozhdestvensky“, blickt. Man kommt an dem kleinen, quicklebendigen älteren Herrn auch heute noch kaum vorbei, wenn es um das tiefgreifende, sinnliche und authentische Kennenlernen der Werke von Dmitri Schostakowitsch, Alfred Schnittke und etlichen anderen wichtigen Komponisten des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion und Russlands geht. 2016 erhielt Gennady Rozhdestvensky den Preis der Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch vorfristig im Januar verliehen – nun leitete ein Orchesterkonzert in der Semperoper mit der Staatskapelle Dresden das diesjährige Festival ein. Das soll zur Tradition werden, um auch die Sinfonik des Festival-Namensträgers zu berücksichtigen, die in Gohrisch nur schwerlich präsentiert werden kann.
Obwohl sowohl die erste als auch die 15. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch zu oft aufgeführten Stücken des Komponisten gehören, erinnere ich mich an kein Konzert mit beiden Sinfonien. Allein durch diese Dramaturgie gelang eine besondere Perspektive, ein lebensumspannender Klangraum: hier das freche, studentische Examenswerk, das dem zwar Komponisten Türen in die Zukunft eröffnete, hinter diesen fand er aber bald auch Grenzen und unüberbrückbare kulturpolitische Hindernisse vor. Dort dann die mit Bitternis und kaum erreichter Gelassenheit zurückschauende letzte Sinfonie, die mehrfach ins Nichts der Musik absichtsvoll hinübergleitet. Das reichhaltig-farbige Frühwerk und das nackte Grausen der späten Schostakowitsch-Musiken, wer könnte das besser offenlegen als Gennady Rozhdestvensky, der für seine sezierenden Interpretationen berühmt, aber auch berüchtigt ist? Der 86-jährige russische Dirigent machte sich mit Akribie, aber auch mit dem ihm eigenen gelassenen Humor des altersweisen Musikers ans Werk, und das wurde nicht nur voller Respekt vor dem Lebenswerk von Rozhdestvensky vom Publikum am Ende mit lauten Bravi gewürdigt, sondern führte auch zu einer extrem wirkenden Interpretation: die Klänge fuhren einem bis ins Mark.
Die Staatskapelle Dresden erlag dem Charisma des Pultregisseurs derart, das man nie zu hören geglaubten Klängen lauschte. Dabei hatten nicht alle dieser Klänge Absicht im Bunde, denn Rozhdestvenskys Dirigierweise ist – von den ersten Takten der 1. Sinfonie f-Moll, die in völliger Eindeutigkeit und scharfer Klarheit daherkamen – immer für eine Überraschung gut. Das ergab eine wohl in dieser Weise kaum wiederholbare Stuhlkantenmusik im Orchester, bei der nicht Perfektion das Maß der Dinge war, sondern ein bis zum Bersten gespannter Ausdruck, der von Rozhdestvensky aus dem Augenblick der Aufführung heraus modelliert war. Nachdem der Dirigent in fast allen Tempi der 1. Sinfonie recht langsam unterwegs war, erhielt das Stück auf diese Weise eben nicht die bekannte sprühende Jugendlichkeit. Die Emphase lag nun auf schneidenden Dissonanzen und gedehnten Steigerungen. Fast meinte man das Stück in einer Art Vertikale gedehnt zu erleben, das bestätigte auch der nach horrendem Auseinandernehmen der Posaunenpartie im Largo vor dem Höhepunkt im 4. Satz sich plötzlich entladende Schluss des Werkes.
Ein noch mehr zelebriertes Versinken und Verlieren mit gleichzeitiger messerscharf gespitzter Aufmerksamkeit setzte sich nach der Pause in der 15. Sinfonie A-Dur fort, allerdings wirkte das dauerhafte Sezieren trotz wunderbarer Klangentfaltung und einer atemberaubend mitziehenden Staatskapelle nun energiehemmend, zudem gab es einige Zitterpartien in doch zu ungewohnt vom Maestro in die Runde geworfenen Einsätzen. Doch der 2. Satz verhieß dann wieder eine wundersame Art von Ewigkeit. Hier waren es dann die ausnehmend schönen, einsamen und melancholischen Soli vor allem von Gabriel Schwabe (als Gast) am Cello, aber auch von Konzertmeister Matthias Wollong und vielen anderen Solospielern, die souverän die emotionale Haltung aufnahmen und weitertrugen. Im kaum schnelleren Allegretto gelang einiges an Bissigkeit, bevor die Wagner-Zitate im 4. Satz das Stück entgültig der Erde entrückten. Maestro Rozhdestvensky begleitete auch in den letzten Takten das hartnäckige Pendeln des Schlagzeugs und genoss dann lächelnd die stehenden Ovationen. Einen Vorhang aber ließ er für sich aus und widmete diesen Applaus den Partituren von Dmitri Schostakowitsch. Die spannungsvolle Ambivalenz zwischen der Bescheidenheit dieser Geste und der gleichzeitigen Konsequenz seines Zugangs zum Werk beschreibt vielleicht die Größe von Gennady Rozhdestvensky am besten – es war ein denkwürdiger Konzertabend.
* MDR KULTUR sendet das Konzert am 4. August 2017 um 20.05 Uhr.
Foto (c) Matthias Creutziger
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