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Elbphilharmonie I – City of Birmingham Symphony Orchestra

Mein erster Besuch in der Hamburger Elbphilharmonie war beinahe zufällig. Eigentlich zu einem anderen Termin anwesend, hatte ich das Glück, das Gastspiel des City of Birmingham Symphony Orchestra am 25. November miterleben zu dürfen. Unter der Leitung ihrer litauischen Chefdirigentin Mirga Gražinytė-Tyla (31) – sie steht dem Orchester seit September 2016 vor – präsentierten die Briten ein spannendes Programm, das nicht nur klingende Visitenkarte war, sondern in seiner stilistischen Vielfalt auch gut geeignet war, die Akustik bei meinem Zuhördebüt in verschiedenen Aspekten zu erkunden. Die Eindrücke rund um das Konzert halte ich aber hier auch einmal fest – aus verschiedenen Gründen konnte ich den Artkel erst jetzt, zwei Wochen nach dem Konzert publizieren. Wer schon zig „Mein erster Elphi-Besuch“-Aufsätze gelesen hat, darf nach unten springen, verpasst aber vielleicht ein kleines Lesevergnügen.

Normalerweise ist ja ein Konzertbesuch für mich Alltag, dementsprechend geht es mir hauptsächlich um die Musik: man kommt, setzt sich hin und hört zu. Bei einem neu zu erkundenden Konzertsaal tastet man sich aber sensibel mit allen Sinnen vorwärts. Und das fängt schon mit der pedestrischen Annäherung an das Gebäude an. Beim Bau hat man vermutlich auch zu verhindern gesucht, dass es einem jeden Tag die Nacht folgt (es könnte einige Millionen erklären), aber gegen die Natur ist kein Kraut gewachsen. Im Winter ist es vor Konzertbeginn lange dunkel, so dass ich die Elbphilharmonie auch nach meinem zweiten Besuch noch nicht bei Tage gesehen habe. Vielleicht möchte ich das auch nicht mehr, da sie sich mir nun in der Erstbegegnung in ihrer dunklen Imposanz zeigte. Die Erstbegegnung ist auch zugleich die Erstbesteigung. Die Frage, warum man den Konzertsaal nicht gleich unten in den fundamentbildenden alten Speicher eingebaut hatte, verwarf ich irgendwo auf der Rolltreppe. Die Fahrt durch den Schlund ist ein einzigartiges, auch etwas skurriles Spektakel, wenn man nicht wie alle mich Umgebenden in permanentes Gequatsche verfällt, sondern stattdessen der „stillen Fahrt“ etwas Raum in seiner Phantasie gibt.

Ich hätte sicher noch ewig weiterfahren können, wäre dann aber in meinem Kopfkino entweder in einem Saturn-Markt oder im Himmel angekommen und war froh, dass beides nicht der Fall war. Stattdessen eine kleine Pause in Backstein an einem ersten Panoramafenster, dann folgt links eine weitere Rolltreppe, und dann ist nach einigen wie schwappendes Wasser gestalteten Stufen die Plaza erreicht, die Besucherplattform der Elbphilharmonie. Ich schreibe den Namen des Gebäudes übrigens hier aus, da ich als Dresdner ohnehin mit „Kulti“ geschlagen bin und Verniedlichungen sich erstens bei dem 110m hohen Gebäude verbieten und sich andererseits schon orthographische Desaster eingeschlichen haben: ahja, eine „Elphi“, das ist also die Kurzform von El-das b bitte an der Garderobe abholen-Philharmonie?

Die Plaza windet sich um den Konzertsaal herum – dass es nach oben in mehreren Ebenen weitergeht, nimmt man zunächst nicht wahr. Wie in jedem gescheiten Konzertsaalgebäude kann man sich auch hier kolossal verlaufen, ist man einmal in zeitlosem Traum-Staunen unterwegs. Moment, hier links war doch das Café?! Und dann liegt es doch rechts von einem. Achja, die Jacke ist in Garderobe Nord. Nord? Ha, ich hätte doch einen Kompass einstecken sollen. Erst beim Gang durch die Windschleuse auf die Außenterrasse (Hüte festhalten! Welch Brise!) erkennt man wieder, auf welcher Seite des Gebäudes man sich tatsächlich befindet. Fein hinter der Saal-Herzkammer justiert befinden sich die Aufzüge und WCs, wobei hier schon erste Kinderkrankheit(ch)en deutlich werden: An zwei Fahrstühlen warten die Damen und Herren zwar geduldig, aber es kommt immer ein voller und somit nicht benutzbarer Aufzug an. Der fährt also weiter, vermutlich heute noch. Der dritte Aufzug endet gar auf dieser Ebene, was auch nicht jeder gleich versteht. Dass Menschen sich durch die Aufzugschlange hindurchquengeln, kommt bei den Wartenden gar nicht gut an. Als aber die Vordrängler angegrummelt werden, outen sich diese als hindurchschlüpfende WC-Besucher, und diese Örtlichkeiten sind natürlich hinter den Aufzügen. Dort erwartet einen die nächste Überraschung. Nachdem man seinem noch im Trockenen schwimmenden Handwaschnachbarn die Lichtschranke (raffiniertes Versteck!) erklärt hat, kann man selbst am Waschbecken eine tolle Planscherei veranstalten. Champions League: versuchen Sie sich die Hände zu waschen ohne den Spiegel oder den Fußboden zu nässen. Da ist – pardon – jedes Autobahnraststätten-WC besser installiert. Leider ist da meist die Musik schlechter. In den Elbphilharmonie-WCs gibt es gottlob keine, dafür wird man von einem Herrn mit Wischmop verabschiedet, der das sanitärtechnisch bedingte Malheur alsdann zu beseitigen versucht.

Ansonsten geben sich die Foyers atmosphärisch kühl in ihrem Retro-Neon-Ambiente ohne viel Brimborium, mit einigen geometrisch feinen Durchblicken nach unten und einer äußerst langen Pausenverköstigungstheke auf Ebene 12. Dass der Espresso dort lauwarm serviert wurde, ist hoffentlich keine Hamburger Eigenart. Superfreundlich und aufmerksam ist jedoch das komplette Personal, das ebenso zu einem Schnack aufgelegt ist, einem aber auch freundlich-bestimmt doch zum Abgeben des obligat mitgeführten Hausstands rät, will man nicht mit weiterem Personal Bekanntschaft machen.

Dann endlich ist man im Saal und kann sich erst einmal gar nicht sattsehen an den Formen, am großen Rund und den verschlungenen Ebenen. Wie eine Momentaufnahme eines Wasserfalls hängt die Orgel gegenüber und das Geschwungene, Wasserartige findet sich auch bei anderen Elementen wieder. Die von den Akustikern in unendlicher Klein(st)arbeit ausgetüftelten Wände wirken mal wie Täfelung, mal wie Termitenbau, schieben sich aber kaum in den Vordergrund, ebenso wie die Lampen möglichst unauffällig vor sich hin scheinen. Nur der Baldachin-Pilz an der Decke erheischt Aufmerksamkeit. Noch so ein Schlund. Nun geht es um die Musik, das antizipiert schon der sich allmählich füllende Saal und auf die Bühne richten sich alle Blicke. Jeder wähnt sich gemäß der früh geäußerten Versprechen ähnlich nah am Geschehen – was mit den Ohren in der Folge auch tatsächlich gelingt. Es ist wahrhaftig eine andere Dimension des Musikhörens, die sich hier auftut. Später – bei Besuch zwei – erfahre ich, dass das Musikmachen hier zwar auch den Nimbus des Einzigartigen hat, aber sich dann relativ schnell entzaubert. Musiker nehmen den Saal durchaus pragmatischer wahr, denn sie haben hier auch viele handwerkliche Dinge zu entscheiden, die sie in ähnlichen Verfahren auch in anderen, bei Tourneen neu zu erobernden Sälen durchführen.

Die Spreu vom Weizen scheint sich, das lassen bisherige Berichte erahnen, hier schnell zu trennen. Ein anspruchsloses, müdes Vorsichhinschrubben der Musik (es kommt öfter vor, als man denkt) in diesem Saal würde umgehend bestraft werden. Allerdings läßt das Bühnenfeeling wohl kaum eine solche Haltung zu, und es dürfte hier jedes Ensemble ohnehin sein Bestes geben. Da aber ist die Varianz weltweit groß, das wissen wir nicht erst seit der Elbphilharmonie. Der Hamburger Konzertsaal ist nunmehr aber bekannt und beliebt für Beschreibungen, in denen der klare, bis in Obertonverästelungen verfolgbare Klang zuweilen die Rezensenten in einer sinfonischen Chirurgie wähnen läßt. Messerscharf sind da die Klänge, es wird seziert oder obduziert, nicht selten liest man von Röntgen oder Offenlegung der musikalischen DNA. Gottseidank hat die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla mit Skalpellen nichts am Hut, sie demonstriert schlicht eine mitreißende Musikalität. Ihr Augenaufschlag und ihre unmissverständlich klaren, manchmal kantigen, immer auf den Punkt gebrachten Körperansagen an das Orchester verfehlen nicht ihre Wirkung. Mozarts Zauberflötenouvertüre sitzt ebenso wie das (ja, DNA in Great Britain) Elgar-Violinkonzert, auch wenn Solistin Vilde Frang und die Dirigentin vom munter satzzerklatschenden Publikum aus der Spannung gehebelt werden – am Ende des 1. Satzes mutmaßte eine Hörerin in der 1. Reihe sogar das Ende des Konzertes und sprang auf. Die vereinsamte Standing Ovation beendete der Gatte vom Nachbarplatz aus mit einem herzhaften Schultergriff. Es hätte ihn genauso treffen können.

Im zweiten Teil des Konzertes erschien mir Olivier Messiaens Klangästhetik nahezu ideal für diesen Saal. Gab es im ersten Konzertteil noch hier und da diskutierbare Aspekte von Balance und Homogenität, wo auch das letzte Quentchen Konsequenz fehlte — was mir zeigte, dass absolut ALLE Spieler einer Instrumentengruppe in der Elbphilharmonie die berüchtigten 100% geben müssen, und zwar dauerhaft und in überhaupt selten herstellbarer Einigkeit, weil wirklich jeder winzige Spannungsabfall im Hörergebnis bestraft wird, hat man einmal die mögliche Brillanz eines „perfekten“ Akkordes oder eines messerscharfen (sic!) Klangansatzes wahrgenommen — so war die blockhafte Kompositionsweise von Messiaens Spätwerk „Un Sourire“ im akustischen Ergebnis eine positive Überraschung. Vermutlich hatte Thomas Hengelbrock bei der Konzeption seines Eröffnungsprogramms diese Vorzüge bei Messiaen festgestellt und daher einen Satz aus Turangalîla vorgestellt – vor dem TV war ich natürlich nur mäßig überwältigt. Generell scheint die Akustik schwere, große Werke zu bevorzugen, sie gleichsam zu entschlacken und den Bauplan offenzulegen ohne (wenn das Orchester gut ist!) den Stücken die Faszination zu nehmen. Ein absolut saubere Vorstellung einer Messiaen-Akkordfolge ist tatsächlich etwas Wunderschönes, und erst auf dieser Basis kann Tiefe entstehen, nicht vorher. Was diese Erkenntnis erst für eine Beethoven-Sinfonie in diesem Saal bedeutet, muss ich noch herausfinden. Die Zauberflöten-Ouvertüre war da zur Beurteilung etwas zu kurz und hatte noch eine leichte Einstiegsunwucht.

Zum Abschluss ließ Mirga Gražinytė-Tyla dann die Wasserwogen im Orchester schwappen und machte aus Debussys „La Mer“ gleich mal ein „poème dansé“, was dem Komponisten gefallen haben dürfte. So schwingend-enthusiastisch habe ich das Stück selten gehört und konnte natürlich bei dem exzellenten Sound nur noch staunen, lediglich die Trompeter schossen im 3. Satz dynamisch über das Ziel hinaus, was dann auch live nicht mehr zu korrigieren war. Dass der Konzertmeisterin bei der zugegebenen  „Szene mit Kranichen“ von Jean Sibelius ein paar Tränen im Gesicht standen, zeigte, dass sich Mirgas intensives Musizieren auch unmittelbar den Musikern mitteilte. Der kleine Trompetenschreck zeigt indes, dass das berühmte volle Risiko eben auf dem Gradmesser auch noch einige Mikroausschläge besitzt, die in diesem Saal unbedingt zu beachten sind. Und wenn dann die feinen, seltenen Momente wie in der begleiteten Elgar-Kadenz im 3. Satz eintreten, wo nur noch Musik und Gestalten zählt, fängt tatsächlich etwas an zu leuchten. Dieser Saal holt auf eine merkwürdig unerklärliche, weil zunächst durchaus kompromittierend direkte Art, den Zauber der Musik zurück. Und dafür braucht es solche hervorragenden Sachwalter, wie es etwa das City of Birmingham Symphony Orchestra an diesem Abend war.

Aus der Presse:

Fotos: Alexander Keuk

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