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Akustischer Wettersturz – drei neue Aufnahmen

Ja, es gibt sie noch, die kleinen runden Scheiben, auch wenn die passenden Läden dazu kaum mehr existieren. In den letzten Wochen sind bei mir einige neue CD-Aufnahmen auf dem Tisch gelandet, die sich in sehr verschiedene musikalischen Welten aufhalten, was beim Hintereinanderhören einem akustischen Wettersturz gleichkam, aber solche Kalt-Warmbäder sollen ja auch bei Musik durchaus gesund sein.

Das Wort „Ausnahmekünstler“ ist ja eine echte Phrase from hell („Startenor“ kommt gleich danach), aber tatsächlich gibt es Künstler:innen, die ihre wirklich besonderen Talente auch mit einem entsprechenden Repertoire so kongenial verbinden, dass einem das Wort doch wieder über die Lippen rutscht. Bei der Pianistin Tamara Stefanovich ist es die Neugier auf zeitgenössische Musik gepaart mit einer stupenden Technik und Erfahrung in genau diesem Gegenwartsgenre, die verursachen, dass ich ihre Konzertauftritte oder neue Aufnahmen von ihr mit Staunen und Begeisterung verfolge. Was sie sich vornimmt, sind beileibe keine Salonstückchen, eher vermittelt sie, wie vielfältig und sinnlich Klaviermusik auch im 21. Jahrhundert weiterhin ist.

Den beiden Komponisten György Ligeti und Olivier Messiaen gilt ihre besondere Achtung und Liebe, und das spiegelt sich auch in ihrer neuen Aufnahme „Etudes & Frames“ mit Stücken von Vassos Nicolaou, die in gewisser Weise in einer direkten Folge der Klavierwerke der beiden Meister stehen, aber eben auch eigene Handschrift, eigenes Denken verraten.

Die insgesamt 15 Etüden auf diesem Album, die der Komponist explizit für Stefanovich schrieb, sind weit gefasste Studien über verschiedene Parameter der Musik und des Musikmachens, vor allem im Hinblick auf Bewegung und Virtuosität. Der 1971 geborene zypriotische Komponist, der u.a. in Köln und Frankfurt ausgebildet wurde, scheint in diesen Klavierstücken auch eine besondere Qualität des Klangs zu diskutieren. Das ist bei Stefanovich in guten Händen, die die fluiden irregulären Rhythmen wunderbar leicht (an einigen Stellen wie etwa in „Mirrors/Intervention“ blitzt eine jazzige Körperlichkeit hervor) in Szene setzt, aber auch einen sperrigen Gedankenstrom wie eine spannende Geschichte formen zu weiß. Das größere vierhändige Klavierstück „Frames“ setzt einen markigen Schlusspunkt dieses fast einstündigen Zyklus – hier spielt Stefanovich mit ihrem Partner Pierre-Laurent Aimard zusammen. Wer die CD mehrmals hört, wird mit einem interessanten Hörabenteuer auf schwarzen und weißen Tasten belohnt.

Vassos Nicolaou: Etudes & Frames, Tamara Stefanovich & Pierre-Laurent Aimard, Klavier Pentatone (2023)

Wir schalten um. Der aus Dresden stammende Markus Sieber ist ein Wanderer. Und er ist ein Musiker. Beide Lebensmittelpunkte führt er zusammen, wenn er mit seinen Instrumenten die Reisen und Landschaften beschreibt. Unter seinem Künstlernamen Aukai hat er nun ein Album namens „Apricity“ veröffentlicht, das er selbst als innere Reise beschreibt. In der ausgebreiteten Ruhe und in sanfter Bewegung hört man vor allem eine Verbundenheit zur Natur und zu friedvollen Klängen. Wer diese konfliktfreien, fast chant-artigen Klanggedichte mag, die überwiegend mit verschiedenen Saiteninstrumenten und minimalen Texturen auskommen, ist bei dieser entspannten Musik gut aufgehoben.

Aukai: Apricity (2023), Vertrieb verschiedener Editionen via bandcamp

Und noch einmal Weltenwechsel: Tatsächlich steht auf der nun im Player befindlichen CD „Floeten-Concert“, eine Schreibweise, die zumindest ein-, zweihundert Jahre in der Musikgeschichte zurückweist. Und richtig: wir sind etwa im Jahr 1820 gelandet, bei Zeitgenossen von Beethoven und Schubert. Orgel- und Flötenmusik ist jedoch aus dieser Zeit wenig bekannt, und das ändert diese CD auf unterhaltsame Weise, denn der Organist David Schlaffke und die Flötistin Mariya Semotyuk bemühen sich mit viel Spielfreude um die Kompositionen, die allerdings allesamt Arrangements darstellen, was eigentlich verwundert, da sich die Instrumente ja perfekt ergänzen und die Flötenregister in der Orgel zu den Basics gehören. In St. Johannes in Niederorla (Thüringen) und in der Sloterkerk Amsterdam wurden auch die passenden „flötenden“ Orgeln für diese Aufnahme gefunden, und wenn man hörend von Hummel über Rinck und den berühmten Flöten-Baumeister Theobald Böhm zu Felix Mendelssohn-Bartholdy gelangt, wird auch ein Stück Musikgeschichte lebendig, das mal mozartsche Leichtigkeit atmet, mal in den romantischen Salon des 19. Jahrhunderts hineinlugt.

Floeten-Concert, Transkriptionen für Flöte und Orgel, Werke von Hummel, Rinck, Böhm, Mendelssohn / Mariya Semotyuk, Flöte – David Schlaffke, Orgel, auris subtilis (2023)

 

 


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