Man kann dem Leben für vieles dankbar sein, aber dass ich nun über zehn Jahre gebraucht habe, bis ich die Geigerin Patricia Kopatchinskaja endlich einmal live im Konzert erleben durfte, wäre zumindest ein Punkt, den ich bei meiner Reflektion auf Wolke 384 dann kritisch anmerken werde. Gleich daneben kommt aber auch der Satz, dass sie unmissverständlich für eine Erfüllung, wenn nicht gar Verlängerung dieses Lebens beigetragen haben dürfte, denn Musik ist Nahrung, und diese teilt Patricia Kopatchinskaja mit allen ihren Gaben aus, so dass man sich eigentlich wundert, ein „Konzert“ besucht zu haben, eher war es eine Art Vitaminspritze am Sonnabend im Wiener Konzerthaus.
Noch einmal ein kleiner Sprung zurück: aufmerksam geworden bin ich auf die grandiose Musikerin durch eine Aufnahme des Beethoven-Violinkonzertes, sie stammt aus dem Jahr 2009. Damals arbeitete ich selbst in einem CD-Geschäft, legte diese Aufnahme ein und besah dann abwechselnd beim Hören das in meinen Händen befindliche Cover und eine Kollegin, die sich in bestimmten Takten mit einem „Hast-du-das-gehört“-Blick zu mir umdrehte. Seitdem höre, erlebe, lebe ich dieses Violinkonzert anders. Und auch Patricia Kopatchinskaja schrieb Ludwig später einen Brief.
Dann begann allerdings die lange Durststrecke der Abwesenheit von Kopatchinskaja in Dresden, denn ihr Debüt 2012 in der VW-Manufaktur hatte ich verpasst, in andere Städte kam ich nicht so oft, und ihre wenigen Gastspiele waren dann entweder bei mir oder bei ihr selbst von Absagen gekrönt, schließlich kam noch die Pandemie. Nun bespielt sie 2024 ein ganzes Wochenende den Kulturpalast mit der Dresdner Philharmonie, dafür lohnt sich vielleicht sogar Urlaub in der bisherigen Heimat, obwohl ich natürlich in Wien nun näher dran bin, denn im Konzerthaus, wo sie das jüngste Ehrenmitglied ist, hat die Geigerin eine Porträtreihe in dieser Spielzeit.
Und nun hat es also geklappt! Ihr erstes Konzert war eine Kammermusik im Mozartsaal, und dafür hatte Kopatchinskaja zwei langjährige Freunde und „partner in crime“ um sich geschart, nämlich den Klarinettisten Reto Bieri und die Pianistin Polina Leschenko. Auch diese sind herausragende Künstlerpersönlichkeiten, die ohne weiteres einen ganzen Abend auch allein zu begeistern wissen. Genau das ist aber der Kitzel auch dieses Konzerts gewesen, denn ein duckendes Begleiten gab es hier niemals und die im Trio gespielten Stücke waren auch dazu angetan, wenn nicht einen Konkurrenzkampf, dann doch mindestens eine arenahafte Atmosphäre zu erzeugen – ähnlich übrigens beim Breakdance, wo immer einer in die Mitte geht, aber alle ständig mitgehen.
Dass solcherlei Musizieren möglich war, lag an der Auswahl der Stücke, die allesamt entweder einen Volksmusikcharakter trugen (ich hätte beinahe Folk geschrieben, was sogar im Sinne einer bilateralen Musik wie auch zur freundschaftlichen „hey, folks“-Stimmung fast besser passt) oder als Schauspielmusik (Poulenc, Milhaud) schlicht minimalistische Träger von Unterhaltung waren. Dazu gab es in Kopatchinskajas Dramaturgie einen Wechsel zwischen großen Werken, die aber auch kleinteiliger komponiert waren, und eben diesen kleinen Miniaturen.
Frappierend war, wie so unterschiedliche Werke aus Frankreich, Rumänien, Ungarn und den USA nebst einer eigenen Komposition von PatKop in den Interpretationen schnell das Gemeinsame zeigten, die Leichtigkeit des Tanzes ebenso wie die Melancholie des Gesanges oder das unmerkliche Hinüberschweben in emotionale Sphären, die man nur glaubt zu kennen, die aber erst zwischen den Noten entstehen, einmalig, vergänglich. Das passiert natürlich, wenn man Kopatchinskaja staunend ihren ganz persönlichen, einprägenden Klängen lauscht, die sie schon im einleitenden Enescu-Solostück auf der Geige findet, beinahe sich selbst für den kommenden Konzertabend erkundend, denn Ton, Instrument, Persönlichkeit, das verschmilzt hier auf unsagbare Weise.
Spätestens in der großen 3. Violinsonate des Rumänen ist dann klar, dass es ihr um genau diese frappierenden, niemals gekünstelt wirkenden Zwischentöne geht, aber auch um die Deutlichkeit des Ausdrucks. Und der ist extrem in Enescus Sonate, die teilweise enorm zerbrechlich vor sich hin summt, dann wieder mit aller Kraft ins Sinfonische auffährt, als müßte endlich ein neues Zeitalter anbrechen, jetzt, in diesem Takt. Auch Polina Leschenko am Klavier holt diese Ehrlichkeit der Musik heraus, kümmert sich um das reichhaltige Verzierwerk der Sonate und fordert auch die Führung ein, wo Enescu lautstark die Geige wegkomponiert. Bald fühlt man sich in einer Art wunderschönem „lost place“, aber genau darf sich Musik auch verorten, will sie nicht stinklangweilig sein.
In seinen späten „Kontrasten“ läßt Béla Bartók die Pferde ein bisschen gezügelter als Enescu – und mit ebensolcher Seriösität, aber auch dem gemeinsamen Willen zum Loslassen der Musik gehen Bieri, Kopatchinskaja und Leschenko an das Werk heran. Dagegen offenbart sich im endlich einmal aufgeführten Trio von Paul Schoenfield aus dem Jahr 1990 ein fast chaotischer Wimmelplatz chassidischer Fröhlichkeit samt kompositorisch komplexer Verknotigung, und weil die ruhigen Sätze gerade bei Bartók und Schoenfield fast außerplanetarisch schön scheinen, darf dann auch am Ende wild getanzt werden.
Damit allerdings übte sich das Wiener Publikum in respektvoller Verweigerung – als Kopatchinskaja zur Zugabe tatsächlich auch das Publikum zum Tanzen aufforderte, blieb die ominöse Grenze zwischen Volk und Künstlern bestehen – getanzt wird nur beim Ball, sagt sich der Wiener und gibt sich g’schamig. Kopatchinskaja, die übrigens im März 24 auch als Schönbergs „Pierrot“ ans Konzerthaus zurückkehrt, wird sicher eine passende, klingende Antwort darauf haben…
Fotos (c) Alexander Keuk
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