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Glasklar und konzis

Pierre Boulez zum 100. Geburtstag – eine Würdigung im Wiener Musikverein

Der Komponist und Dirigent Pierre Boulez wäre am 26. März 100 Jahre alt geworden. Weltweit gab es an diesem Tag ihm zu Ehren zahlreiche Veranstaltungen und Konzerte, denn sein vielseitiges Wirken strahlt bis heute in die Musikwelt aus. Boulez war 2005 zum Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien ernannt worden, und der Musikverein richtete am  Mittwoch ein Gesprächskonzert mit Weggefährten aus, moderiert von Intendant Dr. Stephan Pauly. Sich diesem Koloss der Musik anzunähern, gelang an diesem Abend auf dreierlei Weise, über die Musik, die Nachzeichnung der Wege seiner Biografie und über persönliche Erinnerungen. Doch schon hier verästelt sich der Zugang zu diesem Künstler vielfach, denn man kann ihn als Komponist und Interpreten würdigen, als Musikforscher, als Initiator und Gründer, als Denker, Pädagogen und sogar Musikphilosophen, und sein aus einem Spiegel-Interview oft zitierter Satz „Reißt die Opernhäuser ein!“ war eigentlich der am meisten missverstandene, wenngleich er zu einem Wesensmerkmal der Persönlichkeit von Boulez führt, das auch einen Werktitel trägt und an diesem Abend ein paar Mal zum Faden im Gespräch wurde: „explosante – fixe“. Das fixierte gegen das Improvisiert-Freie zu setzen, die Regel durch Explosion oder Streuung aufzubrechen, das beschreibt zumindest ein Kontinuum im Interesse von Boulez, das in seinen Tätigkeiten immer wieder Kunst erzeugte, aber auch notwendige Reibeflächen und Widersprüche aufsuchte.

Pierre-Laurent Aimard

Dieses Interesse ist schon in seinen frühen „Notations“ für Klavier spürbar, die unter den Einflüssen von Messiaen, Varèse oder Jolivet am Ende des 2. Weltkriegs entstanden – das ungestüme Dokument eines Zwanzigjährigen im Raum einer Zeitenwende, die sich musikalisch dann mit Donaueschingen und Darmstadt neue Welten erschloss.  Pierre-Laurent Aimard, einer der wichtigsten und interessantesten Pianisten für die Musik der Gegenwart und gleichzeitig viele Jahre Wegbegleiter von Boulez u. a. als Pianist im Ensemble Intercontemporain, spielte zu Beginn dieses farbensprühende Klavierwerk, das Boulez viele Jahre später für gewichtig genug befand, um es erneut zu einer Orchesterfassung zu befragen, die über eine reine Instrumentationsarbeit weit hinausweist und Klang, Ereignis und Impuls neu interpretiert.

Solcherlei Erkenntnisse über Boulez bekam man in dem abwechslungsreichen Abend im Gläsernen Saal nicht akademisch-trocken, sondern in der Begeisterung der Protagonisten serviert, und es ist schon ein Kunststück, etwa in wenigen Sätzen die 2. Klaviersonate einem ganz sicher nicht in allen Boulez-Dingen sattelfesten, aber neugierigem Publikum so zu servieren, dass man sofort Lust auf mehr bekommt – Aimard baute im mittleren Teil des Abends ein Werk-Mosaik mit Erläuterungen am Klavier, das Schaffenswege von Pierre Boulez skizzierte und in eine Komplettaufführung der 1. Sonate (1946) mündete, ein erstes reifes Statement von Ideenkonzentrat und Sprachfindung des Komponisten.

Dazwischen bekam der in Wien an der mdw lehrende Dirigent Clement Power Gelegenheit, sich der Persönlichkeit von Boulez in Erinnerungen anzunähern. Neben der Bescheinigung einer Art Generösität, die sich auch in einer enormen sozialen Kompetenz etwa am Pult zeigte (obwohl Boulez, auch dies wohl eine innere Notwendigkeit, ebenso ein Einzelgänger und zurückgezogen lebender Mensch war), fiel mehrfach das Wort „consistency“, das im musikalischen Wirken von Boulez wohl am besten mit Folgerichtigkeit und künstlerischer Konsequenz beschrieben werden kann.

Stephan Pauly hob das gleichzeitige machtvolle Wirken der Dirigentengiganten Leonard Bernstein und Pierre Boulez hervor, wobei ein weiteres oft in der Rezeption geäußertes Missverständnis gegenüber Boulez, nämlich ein angenommen strenger, unterkühlt wirkender Zugang zur Musik zur Sprache kam und weniger in verbalen Gegenargumenten aufgelöst wurde, denn in einigen Videozuspielungen mit Musik von Bruckner und Mahler, wobei man mit eigenen Augen prüfen durfte, was die besondere Aura von Boulez ausgemacht hat. „Glasklar“ sei sein Dirigat gewesen, so Daniel Froschauer, der als Vertreter der Wiener Philharmoniker vor allem das Konzertwirken von Boulez (er dirigierte etwa 50 Konzerte mit dem Orchester, beginnend 1992 mit einem Dirigat bei den Salzburger Festspielen) würdigte, sich aber ebenso offen für dessen Kompositionen zeigte – Offenheit sei ohnehin ein Wesenszug des Dirigenten gewesen, der ja spätestens ab den 90er Jahren weltweit eine durchaus auch machtvolle Position der Musikwelt einnahm. Nachdem ihn sein Heimatland als Radikalist erst verstoßen hatte, wusste er – ganz sicher könnte man ihn heutzutage sicherlich als „Influencer“ und Netzwerker bezeichnen – mit für ihn entscheidenden Schritten nicht nur seine eigene Karriere zu befördern, etwa durch den damals ebenfalls als radikal reziperten Einstieg bei den Bayreuther Festspielen im heute nur noch als legendär geltenden Chéreau-Ring, sondern setzte sich mit seiner Offenheit und seinem Befragen der Zustände auch für ein in die Zukunft wirkendes Musikleben ein, etwa mit der Gründung des IRCAM in Paris oder seinem zeitgenössischen Musikensemble Intercontemporain.

Die Offenheit bestimmte auch seine kompositorischen Linien, große Werke wie „Pli selon pli“ oder „Répons“ entstanden über viele Jahre und Fassungen hinweg und offenbaren viele Schichten, Deutungsmöglichkeiten, aber auch die unverwechselbar konzise Art, musikalische Ereignisse in einen Raum zu setzen und passieren zu lassen.  In diesem Sinn war man sich am Podium einig, einen „Diener der Musik“ betrachtet zu haben, mit dem man sich hoffentlich noch lange und in seinem Sinne auch schöpferisch auseinandersetzen wird.

Fotos (2): Raphael Mittendorfer

 

 


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Veröffentlicht in Rezensionen Wien

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