Da ich in diesem Jahr nicht alle Termine bei der 38. Ausgabe von Wien Modern wahrnehmen konnte (und wer schafft tatsächlich alle 115 Veranstaltungen dieses Jahrgangs!?), gibt es hier ein paar Streiflichter der tatsächlich nur wenigen Konzerte, die ich besuchen konnte. Da es mein persönliches Blog ist, wird es vielleicht etwas plauderiger als sonst in den einschlägigen Fachblättern, für die ich schreibe. Außerdem bin ich gerade dabei, mein Leben wieder nach Dresden zu verlegen – insofern weitet sich der Blick wieder, aber merke auch anhand der Konzerte, was ich vermissen werde und was nicht.
ARDITTI 51
Das Arditti-Quartett kann man immer und zu jeder Zeit und an jedem Ort hören – entscheidend ist, was sie gerade im Notenkoffer haben. Sie setzen sich für nahezu alles, was spielbar (und angeblich unspielbar) ist und nach etwa 1900 geschrieben wurde ein. Um den spiritus rector des neuzeitlichen Streichquartettes Arnold Schönberg in seinem Jubiläumsjahr zu ehren und gleichzeitig das eigene Bestehen zu feiern, sollte 2024 ein Zyklus mit allen Schönberg-Quartetten bei Wien Modern aufgelegt werden – eine Krankheit des Cellisten Lucas Fels verhinderte dies. In diesem Jahr wurde der nahezu ausverkaufte Zyklus nachgeholt, Arditti 51 also – mit überschwänglichem Zuspruch des Publikums.

Ich konnte selbst nur zwei der vier Konzerte besuchen, erwischte terminlich aber ausgerechnet die beiden Abende mit Schönbergs drittem und viertem Streichquartett und damit zwei Stücken, mit denen ich mich im Gegensatz zu den ersten beiden noch nie beschäftigt oder konfrontiert hatte, was mich angesichts meines unversiegbaren Repertoiredurstes etwas schockiert hat. Es mag aber auch daran liegen, dass Quartettformationen, wollen sie einigermaßen publikumswirksame Programme basteln, eher nicht zuerst auf diese beiden Quartette zeigen, dementsprechend selten findet man sie überhaupt aufgeführt. Ich muss sagen, dass ich nach dem ersten Hören der beiden Quartette an meinen rezeptiven Fähigkeiten zweifelte, denn ich kam diesen verwuselten, verwickelten Stücken einfach nicht nahe, weder mit dem Kopf noch mit dem Körpergehör. Immerhin nahm ich das vierte Quartett als eine Entschuldigung für das in meinen Augen ziemlich verunglückte Dritte wahr und labte mich an einigen Spannungsverläufen und Gesten darin. Ob es an der souveränen, wissenden Interpretation der Ardittis lag, wage ich nicht zu beurteilen. Möglicherweise fände ein Quartett, das sich wie ich als Hörer den Stücken zum ersten Mal nähert, andere Angriffspunkte und Betonungen.
Allerdings hatte das Arditti Quartett in die vier Programme auch noch andere Quartettmonster und -preciosen eingefügt und scheute sich nicht, auch noch vier Uraufführungen zu präsentieren, um dem aktuellen Komponieren für Quartett ausreichend Gehör zu verleihen. Dabei waren sowohl Sarah Nemtsovs „Or bahir“ als auch Chaya Czernowins „Ezov“ (Ysop) interessante Beiträge, wobei ich bei Nemtsov eine stärkere Innenspannung des Erzählenmüssens verspürte, während Czernowin in einem ganz anderen Ansatz eher Klangtableaus vorstellte, die sich erst gegen Ende zu einer Art Satz oder Aussage verdichteten.
Im ersten Konzert traute sich das Arditti Quartett zum ersten Mal an Peter Ablingers Konzeptstück „Wachstum und Massenmord“. Der (leider einzige) Kniff des Werkes war, dass das Stück im Konzert zum ersten Mal aufgeschlagen wurde. In der trocken dargebotenen Prima-Vista-Situation von vier Profis wurde das Publikum und die Aufführungssituation weitgehend ignoriert, ein Aha-Effekt blieb allerdings auch aus. Wie kleine Gesten und Zellen unmittelbar und intensiv wirken können, zeigte hingegenen der Kosmos der „Sei Quartetti brevi“ von Salvatore Sciarrino. Und auch ein ausgeschütteter Noteneimer wie der von Iannis Xenakis das Quartett durchwirbelndem „Tetras“ überzeugte mit Lebendigkeit. Mein Highlight der beiden Konzerte war jedoch Clara Iannottas „dead wasps in the jam jar (iii)“, das einen durchweg changierenden Klangraum einer fragil-morbiden Situation durchspielte. Da blieb man im Wortsinn kleben, und seit der Aufführung ihres hochintensiven Klavierkonzertes im Musikverein vor Jahresfrist versuche ich ohnehin jedes neue Stück der Komponistin mitzunehmen, ihre Gespür für absolut ungewöhnliche Klangwelten fasziniert sehr.
Let’s party?
Gleich zu Beginn lud Wien Modern auch zu einem der legendären Party-Abende ein. Das gehört in Wien mittlerweile zur Festivalkultur, auch die Festwochen oder die Viennale kommen nicht ohne Party aus, die im besten Fall nebst eh willkommenem Abtanzen noch den einen oder anderen spannenden Act präsentiert. Vermutlich hatte ich nach dem riesigen Haufen Quartettnoten nicht mehr viel Speicher für die Party in der Ottakringer Brauerei – ich kam etwas verspätet und verpasste die Krenek-Preisverleihung an die mexikanische Künstlerin Angélica Castello. Dem Live Set von Gischt a.k.a. Ursula Winterauer konnte ich noch gut folgen. Aber da ich keinen Alkohol mehr trinke, konnte ich auch die dann merkwürdig vor sich hin wabernde Formation mit dem passenden Namen „drank_“ nicht hinunterspülen, sondern beendete den Abend in Unwissenheit vor dem noch Kommenden.
Alice in Wonderland
Als Koproduktion mit Wien Modern brachte das MusikTheater an der Wien am 17. November die Oper „Alice in Wonderland“ von Unsuk Chin auf die Bühne. Ich erlebte einen faszinierenden, musikalisch fast überbordenden Abend – mein Text findet sich bei Theater der Zeit.

Gepflegte Langeweile
Dass ausgerechnet ein Konzert des Klangforum Wien zum Durchhänger wurde, lag kaum am interessanten Konzept des Abends im Konzerthaus und auch nicht an der durchweg engagierten Interpretation, wobei auch hier erneut das souveräne Können möglicherweise das kindlich-aufstaunende Entdecken verdrängte. Sicher, das fortgesetzte „Tower of Babel“-Projekt mit einer musikalischen Zeichnung der postsowjetischen Landkarte ist ehrenwert. Doch die Stücke waren im Einzelnen schlicht schwer verdaulich. Alexander Khubeev konnte noch mit einer durch Zusatzinstrumente erweiterten Klanglandschaft punkten, aber im polyphonen Geflecht von Hovik Sardaryan „…and the Sun was Green…“ fühlte man sich hoffnungslos verloren. Das änderte sich bei Marina Khorkovas instrumentalen „SchwebeLiedern“ nur punktuell, wenn einmal eine etwas griffigere Textur in den Vordergrund geriet…zufällig? Wie es auch anders geht, zeigte Anna Korsun in „Vivrisses“: höhlenartiges Komponieren und ein Vortasten am einmal gefunden Klang entlang sorgte für ein anderes, weitaus spannenderes Hörerlebnis, bevor Koka Nikoladze sich in seinem „Masterpiece“ mit Erfolg an digitalem Irrsinn und Unsinn weidete und offenbarte, wie leicht doch ein Rezipient mit simpler, vertrauter Mathematik zu übertölpeln ist.
Überraschend
Es gibt sicher kein Werk von Sofia Gubaidulina, das aufgrund seiner Aufrichtigkeit, seiner klar formulierten und komponierten Botschaften (auch wenn diese nicht immer in Worte gefasst werden müssen), nicht ins Herz treffen würde. So ging es mir bei ihren Violinkonzerten, ihrer Kammermusik und zuletzt ihren großen Oratoriensätzen „Über Liebe und Hass“, worin schon ihr spätes Orchesterwerk „Der Zorn Gottes“ antizipiert war, das ja in einsamer Pandemie-Zeit bei Wien Modern uraufgeführt wurde. Um so erstaunter war ich, dass mir ihr Werk „Verwandlung“ noch nie live begegnet war – die MUK hatte es in ihrem Wien Modern-Kooperationsabend auf’s Programm gesetzt. Der von Mikael Rudolfsson geleitete Abend (Ensemble Ionisation Instrumentale aus Studierenden der MUK) überzeugte mit auf den Punkt musiziertem Instrumentaltheater bei Gubaidulina, woran der famose Soloposaunist Juan Pablo Marin-Reyes entscheidenden Anteil hatte. Zuvor gab es zwei Uraufführungen: „wow. much funny. very meme.“ von Simon Bauer überzeugte durch eine aufgeräumt-minimalistische Form, die an typisches Hin- und Herschalten und Scrollen auf den Smartphones erinnerte, sogar der Wechsel von Front- und Backkamera schien eingebunden. Hinterfragt wurde hier die Zurschaustellung, die Darstellung im öffentlichen Raum, reduziert auf Schnippsel und Fragment. Parsa Badiei Sabet komponierte „9“ für Paetzold-Flöte und Live-Elektronik, das allein durch die Nutzung des seltenen Instrumentes der Blockflöten-Familie interessierte, aber in seinen Klangcharakteren noch ausbaufähig schien.
Vokal x2
Das dem Gründer Claudio Abbado von Wien Modern gewidmete Konzert im Musikverein ist meist ein Höhepunkt des Festivals, bestückt beispielsweise mit aufwändigen neuen Orchesterwerken. Diesmal stand die Vokalkunst der Neuen Vocalsolisten im Mittelpunkt. Anstelle mehrerer kleinerer Stücke waren zwei echte „Brocken“ programmiert – zunächst gab es Francesca Verunellis gut 75-minütiges Stimmentheater „Songs & Voices“ zu bestaunen, wozu sich zu den Solisten noch das französische Ensemble C Barré aus Marseille gesellte. Nach einer längeren Pause, die die Vocalsolisten zum Regenerieren nutzten und dem Publikum einen Artist Talk bescherten, erklang dann Chaya Czernowins „Immaterial“, mit noch einmal einer knappen Stunde Dauer. Artist Talk mitten im Konzert? Ich wäre ja aufregungstechnisch gar nicht in der Lage, unmittelbar nach meiner Aufführung oder vor derselben noch schlaue Worte zu den Stücken zu finden und irgendwie war der Abend auch insgesamt zum Zuhören strapaziös, während die Vocalsolisten sich scheinbar mühe- aber irgendwie auch emotionslos durch die beiden Partituren arbeiteten. Auch hier wehte wieder dieser merkwürdige Wind des Souveränen, der zwar Unmögliches möglich macht, aber zum Teufel nicht berühren will. Insofern bin ich fast ein wenig traurig, dass ich der dieser Beobachtung wahrscheinlich völlig konträren Aufführungssituation von Cardew nicht mehr beiwohnen konnte. Denn bei „The Great Learning“ geht es um das Wagnis, um tatsächlich Neues und Ungewohntes, weil Laien sich auch dem Äußern und Artikulieren ganz anders hingeben, als der Profi, der selbst eine Ablinger-Partitur nach einer Viertelstunde weitgehend fehlerfrei herunterschnurrt.

Während ich aber in Verunellis Stück richtig spannende Klangexpeditionen auch in den Kombinationen (etwa Schlagzeug plus Stimme) wahrnehmen konnte und eine Struktur beobachtete, die formal einer Art riesenhaften, teilweise instrumental abgebildeten und vor allem sprachentgrenzten Liederzyklus glich, stieg ich bei Czernowin nach wenigen Minuten aus. Ästhetisch steckte das Stück noch weit vor Schnebel oder Lachenmann fest und die bekannten, wohl ungewollt zu einem plakativen Prototypen eines Neue-Musik-Vokalstücks vorgestellten geräuschhaften Umkreisungen und Lautäußerungen wollten sich nicht zu einem Ganzen oder gar neuer, tieferer Aussage verbinden, sehr schade. So blieb auf der Strecke, was sie eigentlich erzählen wollte, dabei könnte natürlich auch der starke spannungsvolle Fluss gestört haben, den schon Francesca Verunelli in ihrer Komposition gefunden hatte und einem Vergleich nicht standhielt. Die Gegenüberstellung dieser beiden großformatigen und qualitativ völlig auseinanderklaffenden Stücke jedenfalls tat dem Abend nicht gut.
Das Beste kommt zum Schluss
Und ja, leider konnte ich Cornelius Cardews „The great learning“ nicht mehr beiwohnen, hatte aber schon Voraufführungen einzelner Teile besucht, unter anderem im Einkaufszentrum „Westfield Donau Zentrum“, wo die musikalische Intervention zumindest das kapitalistisch durchdrungene Konzept der Einkaufenden zumindest für einige Minuten aushebelte, was dann bei diesen tatsächlich für ein Stehenbleiben und Kopfschütteln reichte. Am Vorabend des Finales von Wien Modern gab es aber auch noch einen spannenden Abend im Konzerthaus, der der Autorin Ingeborg Bachmann gewidmet war und ähnlich dem Abbado-Konzert, ebenfalls zwei Positionen vorstellte, die sich dem Thema äußerst unterschiedlich annäherten. Hier war es der erste Teil, der bei mir völlig durchfiel. Ich wäre im Leben nicht darauf gekommen, dem Bachmann-Text „Unter Mördern und Irren“ ausgerechnet die minimalistisch vor sich hin surrenden Orgelstücke von Klaus Lang beizuordnen. Was Birgit Minichmayer da sauber (und – again – souverän) vortrug, fand keinen Kontrast oder Weiterdenken, sondern wurde quasi durch Schleifen und Patterns weggeorgelt. Spätestens beim dritten Stück bemühte ich mich, aktiv darüber hinwegzuhören, um in der Bachmann-Welt zu bleiben. Vielleicht habe ich aber auch nur nicht die Dramaturgie verstanden.

Wie anders dann doch der Zugang des Komponisten Philipp Maintz nach der Pause. „jag die Hunde zurück!“ (nach Bachmanns „Die gestundete Zeit“) für sechs Soprane und sechs Schlagzeuger quoll über vor Differenzierung und Aufbruchsgedanken und war auch vom sinnlich-gestaltenden Zugang der Ausführenden (Motus Percussion mit Christoph Sietzen sowie „Sopra-tutti“) bestimmt, wobei lediglich die sechs Sopranstimmen in der Klangästhetik wie entfernt vom Schlagwerk klangen, was kein akustischer Fehler gewesen sein muss. Ein starkes Stück Musik also am Ende des Festivals, und trotz des langen Textes sei hier nochmals erwähnt, dass ich wesentliche (wahrscheinliche) Höhepunkte gar nicht besuchen konnte – daher seien hier auch noch einige Berichte der Presse zum Weiterlesen verlinkt.
FAZ: „Schrei ist Lust, Schmerz und Entsetzen“, 27.11.2025
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