Zum Inhalt springen →

Zeitreise

Filmmusik-Uraufführung von Michael Nyman bei der Dresdner Philharmonie

Das zweite außerordentliche Konzert der Dresdner Philharmonie wird nicht nur ein akustisches, sondern auch visuelles Ereignis. Die Filmmusik der sowjetischen Avantgarde der 20er Jahre ist im Konzert zunächst durch Prokofjews Suite zu „Leutnant Kijé“ vertreten, anschließend wird der Film „Der Mann mit der Filmkamera“ (1929) von Dziga Vertow gezeigt, mit der extra für die Dresdner Philharmonie neugefassten Musik des Briten Michael Nyman (geb. 1944), der durch seine Filmmusiken („Das Piano“, „Gattaca“), aber auch seine sinfonischen Werke und Opern weltberühmt wurde.
Alexander Keuk sprach mit dem Dirigenten des Konzertes, dem US-Amerikaner Brad Lubman.

* Der Film von Vertow gilt als Pioniertat des Dokumentarfilms. Was würden Sie als besondere Qualität des Films hervorheben?

Das eigentlich Schockierende des Films ist die Abbildung der Realität, die es so vorher in einem Film nicht gegeben hat. „Der Mann mit der Kamera“ kommt ja völlig ohne Handlung aus, aber die Kamera beobachtet Dinge wie z.B. eine Geburt und wir sehen das gerade neugeborene Baby. Im Medienzeitalter heutzutage ist das Alltag, aber vielleicht weist uns die Filmvorführung auf die spannende Entstehung dieses Genre hin. Wir können dies heute alles mit dem Computer tun, aber es ist ja gerade interessant, die Zeitreise zu unternehmen, wie alles damals begann.

* Die Partitur wurde schon 2001 für die Michael Nyman Band geschrieben, was ist der Unterschied der neuen Fassung, die nun uraufgeführt wird?

Die Nyman-Band ist ein kleines Ensemble, u.a. mit Saxophonen und Klavier, in der Fassung für großes Orchester wird die Instrumentation natürlich farbiger und die Stimmungen noch intensiver. Nyman ist ein Komponist, der ja auf allen Feldern der klassischen und populären Musik arbeiten kann.

* Für die Dresdner Philharmonie, die sonst die großen klassischen Werke spielt, ist das sicher eine neue Erfahrung. Wie reagieren die Musiker auf diese Filmmusik?

Ich muss sagen, dass das Orchester äußerst flexibel ist und sofort den speziellen „Sound“ für diese Musik entwickelt hat. Und ebenso für Prokofjew. Diese enorm schnelle Anpassungsfähigkeit an einen bestimmten Musikstil ist eine gute Grundlage für die Arbeit.

* Welche besonderen Anforderungen muss ein Dirigent für Filmmusik haben? Und wie ist es, diese Musik in einem „normalen“ Sinfoniekonzert zu präsentieren?

Vor allem muss der Dirigent einen Sinn für Tempo und Zeitverläufe entwickeln. Es ist nicht so, dass wir im Konzert mit der Uhr spielen und wie im Studio bei einer Aufnahme des Soundtracks alles präzise synchron spielen müssen, aber es sollte doch annähernd parallel zum Film sein. Außerdem verändert natürlich der Konzertraum die Wahrnehmung des Films, da wirkt noch einmal die Atmosphäre mit Publikum auf den Dirigenten und möglicherweise verändert sich da ein wenig die Tempowahrnehmung. Es gibt eine leichte Flexibilität im Tempo, aber eben nicht viel.

* Der Film hat bereits eigenes, hohes Tempo, Vertow arbeitet experimentell mit Schnitten, Montage und Geschwindigkeit, inwieweit geht Nymans Musik dort mit oder schafft Distanz?

Michael Nymans Musik ist oft viel linearer als der Film, damit schafft er eine eigene Ebene, beide haben ihre eigene Geschwindigkeit. Nyman Musik ist zwar auch oft schnell und rhythmisch, aber er fügt auf jeden Fall eine eigene Dimension hinzu, es ist keine andauernde Parallelaktion. Ich kann mir auch eine andere Musik zu dem Film vorstellen, aber der spezielle Nyman-Sound fügt etwas dem Film hinzu. Man sieht ihn dann einfach anders. Beispielsweise ist die Musik an vielen Stellen sehr melancholisch, es ist die Frage, ob Vertow solch eine Ebene schon beabsichtigt hat, oder ob das eine neue Sichtweise ist. Manchmal denkt man auch an die Stummfilmmusik der 20er Jahre, die ja damals im Kino live vom Piano gespielt wurde – und Nyman ist ja Pianist, diese Verbindung ist sinnfällig.

* Sind im Repertoire von Orchestern Filmmusikpartituren generell angelangt?

Ja, das hat in den letzten zwanzig Jahren stark zugenommen, ich erinnere mich als erstes an Vorführungen von „Alexander Newskij“ von Prokofjew mit Orchester in den 80er Jahren, damals waren wir noch nicht im digitalen Zeitalter. Philip Glass war dann wohl einer der ersten, der moderne Filmmusik in den Konzertsaal brachte. Mittlerweile setzen viele Orchester auf solche Aufführungen und ich merke auch bei der zeitgenössischen Musik, dass die Akzeptanz immer höher wird, vor allem weil in den Orchestern längst ein Generationenwechsel stattgefunden hat: die jungen Musiker wollen Musik aus ihrer Gegenwart spielen, nicht in ein Museum gehen.

Sa, 20.10.2007, 19.30 Festsaal Kulturpalast
2. Außerordentliches Konzert
Sergej Prokofjew: Sinfonische Suite »Leutnant Kijé« op.60
Michael Nyman: »The Man with the Movie Camera« (»Der Mann mit der Filmkamera«), Musik zum gleichnamigen Film von Dziga Vertov
(UA der Orchesterfassung)

image_pdf

Veröffentlicht in Rezensionen

3 Kommentare

  1. War er da?
    Der hatte letzte Woche hier in Düsseldorf ein Konzert zusammen mit einem Ex-Kollegen von mir! Und ich Idiotin hab es verpasst! 🙁

    • Nein, ich sollte ja auch eigentlich das Interview mit Nyman führen, aber der hat aus Krankheitsgründen abgesagt, daher hatte ich den Herrn Lubman vorm Mikro 😉

      p.s. ich frage mich, WAS man da verpasst….

Schreibe einen Kommentar zu Anonymous Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert