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Flackernde Energieblöcke

Opernpremiere „Der Tod und das Mädchen“ von Alfons Karl Zwicker in Hellerau

Eigentlich ist es unmöglich. Wie soll man dem Leid und dem Trauma von Folteropfern, der Gegenüberstellung mit den Tätern eine adäquate Darstellung geben? In Franz Schuberts Lied ist es „nur“ der Tod, der vorübergehen soll, doch die Schändungen des Doktor Miranda, Folterarzt in einem diktatorischen Land wiegen schwerer: sie zerstören ein Menschenleben, das sich fortan unter dem Leid windet – der Moment des Aufeinandertreffens mit dem Täter ist schon in der Vorstellung kaum aushaltbar, noch bevor Fragen von Schuld und Reue entstehen. Berühmt ist das gleichnamige Theaterstück von Ariel Dorfman, beklemmend der Film von Roman Polanski, nun hat das Europäische Zentrum der Künste Hellerau hat am Donnerstagabend in Kooperation mit dem MDR eine Oper uraufgeführt, die eine ungewöhnlich lange Entstehungszeit hatte: fast seit zehn Jahren ist der Schweizer Komponist Alfons Karl Zwicker (*1952) mit dem Stoff beschäftigt, eine Uraufführung in Leipzig 2006 scheiterte.

In Hellerau erklang das Werk trotz witterungsbedingter Widrigkeiten (die MDR-Ensembles saßen zweimal auf der Autobahn im Schnee fest, Proben wurden hinfällig) in einer kaum die Schwierigkeiten ahnen lassenden Konzentration und Professionalität. Hauptverantwortlich für die Souveranität auf und hinter der Bühne ist Regisseurin Annette Jahns, die die Personen behutsam führte und so den Charakter des Kammerspiels auf der Bühne bewahrte. Wenige Gesten genügen da, und gerade die klar gespielten Haltungen und Bewegungen der Personen sprechen ganze abgrundtiefe Geschichten. Die Farbe Weiß bestimmt alles Visuelle auf der Bühne und wandelt sich von der Unschuldsfarbe hin zur klinisch-kalten Farbe des Grauens. Stark sind auch die Videozuspielungen (Markus Glandt/Benjamin Schindler), die in untere Ebenen des Bewusstsein führen oder irritierend die komplette Bühne in einen schwankenden Angst-Raum verwandeln.

Völlig konträr zu diesem Stückverständnis verhält sich die Musik: Komponist Zwicker fährt ein riesiges Orchester auf und verirrt sich mit abstraktem Konstruktivismus in einer gigantischen musikalischen Parallelwelt, zu der nur er Zugang hat – den Zuhörer erreicht dieses Chaos höherer Ordnung nicht. Was Zwicker als „unverwechselbares Klanggefüge“ bezeichnet, ist ein blutleerer, über 130 Minuten zerrissen und zerklüftet wirkender Kosmos, in der man den sechs Schlagzeugern nach vier Szenen zurufen möchte, sie sollen endlich die Finger ruhen lassen. Zwicker scheitert am eigenen Anspruch der Musik, am Umgang mit Proportionen, Wahrnehmungen und Wirkungen – obwohl die erste Szene ansatzweise so etwas wie eine emotionale Introduktion versucht. Der Hagener GMD Florian Ludwig und das MDR-Sinfonieorchester versuchen dennoch, dem kleinsten angerissenen Klangfragment Leben einzuhauchen. Akustisch ist die Grabensituation in Hellerau noch nicht befriedigend, von den Streichern bekam man zu wenig mit, vom Schlagzeug viel zu viel. Die vokale Ebene behandelt der Komponist kaum sensibler: Die drei Solisten Frances Pappas (Paulina), Uwe Eikötter (Miranda) und Andreas Scheibner (Gerardo) schlagen sich höchst respektabel durch einen konsequent durchgehaltenen, für die Zuhörer kaum über längere Zeit ertragbaren syllabisch-rezitativischen Stil. Mehr als Hochleistungssport kommt dabei nicht heraus, denn die Momente charaktervoller vokaler Ausgestaltung der Szenen sind rar.

Ausgerechnet in einer dem Drama angehängten Prozess-Chorszene (stimmgabelbewaffnet und vokalstark: der MDR-Rundfunkchor) wird Zwickers Musik dann doch noch stark: in der Konzentration auf die chorische Klangfarbe flackern plötzlich Energieblöcke, doch hier ausgerechnet kippt das Libretto von Daniel Fuchs, das bisher dem Handlungsablauf brav gefolgt war und formuliert ein fragwürdiges Finale: statt mit dem inneren Zweifel „Glaubt ihnen nicht“ zu enden, proklamiert Fuchs die Einreißung der Theater. Dass Sekunden nach dem freundlichen Premierenapplaus im Nebensaal zu aufgehängten Kreuzen und DJ-Musik gefeiert wird, gibt der Aufführung einen letzten, unangenehmen Nachgeschmack.

Erfolg wird dem Stück nicht beschieden sein, dafür fehlt eine Einheit und Tragfähigkeit von Stoff, Szene und Musik, die verantwortlich für die Erreichbarkeit der Zuschauer ist. Die exorbitante Höranstrengung, der sich das Publikum hier unterziehen muss, verhindert die offene Auseinandersetzung mit dem doch so wichtigen Stoff, statt sie zu befördern.

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