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Körperarbeit und Koch-Kanons

Zwei Uraufführungen bei „Rhythmik 100 Hellerau“

Es gibt Grund zum Feiern: genau 100 Jahre sind seit der Grundsteinlegung im Festspielhaus Hellerau vergangen, seitdem hat das Haus eine wechselvolle Geschichte erfahren. Seit dem Ende der DDR, der Restaurierung des Hauses selbst und dem Einzug des Europäischen Zentrums der Künste lebt der schöpferische Geist der Anfangsjahre im Haus wieder auf: Tanz, Musik und Bühne haben in vielfältigen Formen Einzug gehalten – Hellerau gilt heute international als Spielort und Labor der Moderne. Indes weist das seit zehn Jahren aktive Institut für Rhythmik Hellerau e. V. auf die revolutionäre Bewegung der ersten Jahre zurück: der Schweizer Komponist und Musikpädagoge Émile Jaques-Dalcroze installierte 1911 schon auf der Baustelle in Hellerau sein rhythmisch-gymnastisches Bildungsinstitut und leistete Pionierarbeit mit über 500 Schülern.

Grund genug, nach 100 Jahren mit der Internationalen Werkstatt „Rhythmik 100 Hellerau“ zurückzublicken, aber auch einen Einblick in die Gegenwart zu geben und in Symposien, Workshops und Aufführungen Rhythmik lebendig erlebbar zu machen. Am Donnerstagabend erlebten unter großer Beteiligung der Teilnehmer gleich zwei neue Werke ihre Uraufführung, die in einem sehr straffen Probenprozess zuvor in Hellerau erarbeitet wurden:

Der Berliner Komponist Dieter Schnebel (*1930) scheint für ein Rhythmik-Projekt an diesem Ort geradezu prädestiniert, setzt er sich doch seit Jahrzehnten mit den Klang-Möglichkeiten von Stimme und Körper schöpferisch auseinander. So erschien „Sprechende Körper. Körper-Sprache“ eben nicht als musikalisches Werk, sondern vor allem als optische, offene Partitur. Der Interpret mit allen seinen Möglichkeiten der Bewegung und Klangerzeugung wirkt als Instrument, als „Äußerer“ von zu schaffender Sprache. In der Fassung mit acht Darstellern, behutsam von Annette Jahns und Christian Kesten (Regie) geführt, gelang hier ein fast meditativ bewegtes Bild, in welchem auch Steigerungen und Exzesse kontrolliert und spielerisch, aber eben nicht verspielt wirkten.

Dem gegenüber bildete Manos Tsangaris (*1956) „Vivarium – Reisen, Kochen, Zoo…“ für Bewegung im Raum, Stimmen, Instrumente und Licht den denkbar größten Kontrast zu Schnebels Laboratorium. Tsangaris rhythmische Wirklichkeit ist eine gegenwärtige, von Umwelt, Menschen, Natur und Zeitfluss stark beeinflusste Welt, die bisweilen chaotisch wirkt und offenbar auch sozialkritische Fragen stellen möchte. Vieles bleibt hier als plötzliche Szene im Raum stehen, und es stellt sich angesichts von Kochutensilien-Kanons schneller die Sinnfrage als bei Schnebels von vornherein in der Abstraktion verbleibenden Körper-Arbeit. Manchmal kippt so bei Tsangaris komponierter Kitsch und Performance in eine bedenkliche Extrovertiertheit, seltsam unscharf bleibt der musikalische Anteil aus wenigen Solostimmen und Instrumenten. Unbestritten ist die hervorragende Leistung der zahlreichen Teilnehmer zu würdigen: den Rhythmikern (mit Gruppen aus der Schweiz und Taiwan), dem Ensemble „El Perro Andaluz“ unter Leitung von Lennart Dohms sowie Goldfisch, Hunden und echten und falschen Paparazzi aus dem Publikum.

Als Auftakt für die 11. Rhythmikwerkstatt waren diese beiden Uraufführungen gut dazu geeignet, auch für ungeübte Zuhörer einen frischen Zugang zur Rhythmik zu bekommen, gleichzeitig den Umgang von Komponisten und Darstellern mit Sprache, Körper und Raum zu erfahren und vielleicht auch, wieder etwas vom künstlerischen Geist zu atmen, der bereits 1911 das Festspielhaus durchwehte und von dort in alle Welt getragen wurde.

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