Alfred Brendel und Peter Gülke im Gespräch über Franz Schubert
Er spielt nicht mehr. Das hinzunehmen haben wir eine Weile gebraucht, dass Alfred Brendel, einer der größten Pianisten der Gegenwart, sein Instrument in der Öffentlichkeit nicht mehr anrührt. Sein Lebenswerk ist uns durch Erinnerungen an große Konzertabende und eine überreiche Diskographie präsent – den Komponisten der Wiener Klassik hat er Denkmäler gesetzt, aber keine, die unverrückbar und unantastbar sind. Die Beschäftigung mit der Musik reicht bei großen Künstlern weit über die Einverleibung der Noten hinaus, und so dürfen wir uns glücklich schätzen, dass Brendel uns als brillanter Essayist, Poet und Gesprächspartner an seinem Erfahrungs- und Wissensschatz weiterhin teilhaben läßt.
Eines seiner Bücher trägt den pragmatischen Titel „Nachdenken über Musik“ – das wird schon fast zum ironischen Understatement, wenn man weiss, wie tief Brendel musikalisch wie verbal – oft auch mit hintersinnigem Humor – in die Materie einzudringen vermag. Alfred Brendel war am Dienstagabend zu Gast bei der Sächsischen Akademie der Künste im Blockhaus – im Dialog mit Peter Gülke war der Abend der Persönlichkeit von Franz Schubert gewidmet. Es wäre ein Leichtes gewesen, allein die Verdienste beider Herren um dessen Musik, ihrer Aufführung, Editierung und Analyse herauszustellen – denn Gülke ist als Dirigent und Musikwissenschaftler sowohl interpretatorisch als auch als Autor und Herausgeber ebenfalls ein profunder Schubert-Kenner.
Doch das Gespräch bezog seinen Reiz vor allem aus dem sich entfaltenden Faden der spannenden Rezeptionsgeschichte von Schuberts Werk, die beide in lockerer Weise anhand ausgewählter Kompositionen, der Biografie und der unmittelbaren Musikgeschichte um und nach Schubert beleuchteten. Mit dem „großen Beethoven“ im Nacken, der ja nur ein paar Straßen weiter in Wien wohnte, sind manche Feinheiten und kompositorische Entscheidungen, aber auch Merkwürdigkeiten im Werk Schuberts sicher begründbar, doch auf die „strapaziöse Nachbarschaft“ eingegrenzt werden darauf darf die Persönlichkeit Schuberts keinesfalls. Brendel und Gülke wiesen deutlich auf die Problematik einer Vermengung von Biografie und Werk hin und zeichneten ein Bild des Komponisten, bei dem respektvoll eben nicht die letzten Antworten gegeben werden sollten – die schwierige Deutung etwa von Schuberts Akzent-Notation stand hier stellvertretend für das „Nachdenken“, einen wissenschaftlichen Umgang mit dem Werk, der aber eben eine bestmögliche Annäherung darstellt und den Diskurs zuläßt.
Brendel bescheinigte Schubert einen „unglaublichen Instinkt“ und widersprach dem Vorwurf „unpianistischer“ Kompositionen – offenkundig und komplex sind da auch die Bezüge zum kammermusikalischen und sinfonischen Werk. Von Unruhe, Schaffensdrang und Schaffensgeschwindigkeit, Krankheit und dem persönlichen Umfeld des Komponisten war schlaglichtartig die Rede und insbesondere die letzten Werke wurden als Kosmos eigener Qualität charakterisiert. Obwohl nach Schuberts Tod 1828 des Komponisten Meisterschaft im Lied immer unbestritten war, setzte eine wirkliche Renaissance der Klavierwerke Schuberts erst nach dem zweiten Weltkrieg ein – maßgeblich auch unter Brendels Beteiligung, was hiermit nachgetragen sei.
Sehr treffend waren beider Äußerungen zum Liedschaffen Schuberts: das „mitredende“ Klavier war damals eine außerordentliche Kühnheit, doch noch bis ins 20. Jahrhundert hinein war der „Begleiter“ eine eigene, eigenartige Profession. Lernen durfte man außerdem, dass dennoch der weit geöffnete Klavierdeckel nicht der Weisheit letzter Schluss im Liedspiel ist, und möglicherweise anwesenden Gesangsstudenten schrieb Brendel ins Lehrbuch, dass Diktion und Konsonanten auch heutzutage durchaus Würdigung vertragen. Brendel und Gülke zogen den Hut vor dem großen Komponisten, ohne aber in Ehrfurcht zu verblassen. Am Ende kam eine freundliche Naivität zu Tage, die dem durchaus akademischen Gespräch eine wunderbare Rundung verlieh: Schubert sei doch schlicht der Seele am nächsten – „man könne nicht mehr sagen, nur weiter staunen“.
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