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Bilderbuch und Seelensturm

Haydn und Schostakowitsch mit Andris Nelsons im 12. Kapell-Sinfoniekonzert

Manchmal muss man sich nach Konzerten eine Weile alleine hinsetzen und erst einmal tief Luft holen, um das Gehörte zu begreifen. Vielleicht auch, um zurückzukehren in die Welt der Gegenwart, nachdem man soeben durch musikalisch durch Himmel und Hölle getragen wurde. Damit ist keinesfalls die Qualität des Dargebotenen gemeint, eher stehen die Begriffe für die größtmöglichen Kontraste und Extreme, die in der Musik möglich sind. Geschieht beides nahezu taktweise nacheinander, befindet man sich entweder bei Joseph Haydn oder Dmitri Schostakowitsch, was die ungewöhnliche Kopplung der Komponisten im 12. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden erklärt, zudem beherrschten beide Komponisten das musikalische Augenzwinkern auf ihre eigene Art und Weise.

Dass Haydns Sinfonien durchaus dramatische Qualitäten aufweisen können, machte die Interpretation des Letten Andris Nelsons klar – der erst 34jährige designierte Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra debütierte in diesem Konzert bei der Staatskapelle, jüngst gastierte er bereits bei den Musikfestspielen mit dem „War Requiem“ von Benjamin Britten. Bereits in den ersten Takten von Haydns 90. Sinfonie C-Dur stand fest, dass Dirigent und Komponist hier eine Verbindung eingingen, die bis zum feuersprühenden Finale schlicht Spaß machte. Nelsons ist ein Körperdirigent, er zeigt überdeutlich, was ihm in diesem und jenen Takt auf der Seele liegt – ein Widerspruch ist bei seiner fordernden Gestik ausgeschlossen. Und so blätterte man in diesem Haydn-Bilderbuch, staunte und frohlockte ob der bunten Farben, die die Staatskapelle in die ökonomische Motivik des Meisters hineinlegte. Nelsons ließ Raum für die schönen Flöten- und Streichersoli; der Kehraus mit einem typisch Haydnschen „Generalpausenwitz“ gelang brillant.

Gut 150 Jahre nach der Entstehung dieser Haydn-Sinfonie befindet sich der Komponist Dmitri Schostakowitsch im Fadenkreuz unsäglicher Restriktionen der sowjetischen Kulturpolitik – seine 5. Sinfonie d-Moll Opus 47 ist Antwort und Weigerung zugleich: missverstanden von den Oberen, tief in die Seele brennend, wenn man den Noten auf den Grund geht. Dieses Verständnis transportierte Nelsons durch alle vier Sätze auf kongeniale Weise. Er vereinigte extremste Emotion und klare Führung, so dass es für keinen Musiker ein „Zurück“ gab, sei es im leisesten Flimmern des Largos, von Nelsons als ein einziges Trümmerfeld der Einsamkeit gedeutet, oder in den unwirklich marschartigen Passagen etwa der Durchführung des 1. Satzes, die Nelsons mit unglaublichen Stichen versah. Genau diese Vorgeschichte brauchte es aber, damit er das Ende dieses Satzes in eine Sphäre heben konnte, in der weltentrückt nur noch die leisen Töne regieren durften.

Fratzenhaft und mahleresk ließ Nelsons das Allegretto ausmusizieren, im Finale legte er die Emphase weniger auf den hohlen Dur-Sturm des Schlusses denn auf das fein ausgehörte kammermusikalischen Vortasten dieses Satzes. Damit kippten die Proportionen und das Ergebnis war frappierend und einleuchtend: Nelsons wandte sich dem Individuum zu, das viel mehr zählt als die polternde Masse. Sichtlich bewegt von der Musik nahm Nelsons am Ende die starken Ovationen des Publikums entgegen – und wird hoffentlich bald wieder im Semperbau begrüßt werden können.

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Veröffentlicht in Rezensionen

2 Kommentare

  1. Wow … … tolle Rezension. Ich hab das Konzert leider nicht miterlebt – diese Zeilen machen Lust auf die Musik! Danke.

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