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Sehr gleichberechtigte Ausdruckswelten

Hélène Grimaud und Paavo Järvi im 10. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle

Gewisse Künstler begleiten uns Zuhörer ein Leben lang, ohne dass wir es besonders forcieren müssen. Man merkt eine Verbundenheit, eine gesteigerte Aufmerksamkeit, wenn der Künstler etwas Neues zu sagen hat, eine neue CD veröffentlicht oder zum Konzert gastiert. Mit der Pianistin Hélène Grimaud kann man eine solch niemals ermüdende Beziehung eingehen, weil man durch das Musikerlebnis mit ihr stets bereichert wird – niemals durch Perfektion (was überhaupt ein zweifelhaftes musikalisches Ziel wäre) oder Endgültigkeit, sondern durch eine Energie der Aussage, die zur Auseinandersetzung zwingt.

Grimaud lehrt uns zum einen, wie vergänglich der Moment der Musik ist, zum anderen wie tief wir dringen können, wenn wir uns der Musik öffnen – was für Grimaud, das war im 10. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle spürbar, auch ein Art von natürlichem Abenteuer, einen Grenzgang bedeutet. Johannes Brahms 1. Klavierkonzert d-Moll bietet in seiner Komplexität erst einmal vielfältige Möglichkeiten des Zugangs, darin liegt aber auch die Gefahr, sich zu verlieren oder bestimmte Ausdruckswelten zu sehr zu betonen. Grimaud schaffte es, Dialoge zu initiieren: mit dem Orchester, mit dem Gastdirigenten Paavo Järvi, der höchst konzentriert den symphonischen Charakter des Werkes wahrte, aber auch mit dem Komponisten selbst. In Grimauds Spiel erschien die Vertrautheit der Schumannschen und Beethovenschen Welt exakt gleichberechtigt neben den schroffen Ausrufezeichen des 1. Satzes, mit denen Brahms temperamentvoll neue Ausdrucksebenen erkundet.

Der 2. Satz führt in die Welt der Poesie und des Liedes und wurde in der Dynamik von Järvi ganz zurückgenommen, niemals wurde aber der Fluss der ruhigen Ausformung verlassen. Hélène Grimaud fand viele differenzierte Farben für dieses Konzert. Selbst kleine Intermezzi, die nur in eine andere Tonart führen oder ein Thema noch einmal virtuos dekorieren, nahm sie ernst und bettete diese hervorragend in den Kontext ein. Der 3. Satz spiegelt nur am Anfang heiteren Ausklang vor, Grimaud formte daraus einen stürmischen Befreiungsakt, der unumkehrbar in den Schluss mündete – von wenigen kleinen Überraschungen bei Übergängen zwischen Solistin und Orchester abgesehen, war dies ein durchweg packendes Musikerlebnis.

Béla Bartóks 1943 entstandenes „Konzert für Orchester“ stand als sinfonisches Werk nach der Pause auf dem Programm. Hier ist das „Instrument“ Orchester in Bartóks Farbpalette in allen Gruppen virtuos behandelt, zudem warten die fünf Sätze mit immer neuen Formen, Zitaten und folkloristischem Material auf. Paavo Järvi wirkte fast komplett entspannt bei seiner Tätigkeit am Pult – freundlich, völlig klar in seiner Zeichengebung und dabei jederzeit Energie und Motivation vermittelnd führte er die Staatskapelle, bei der in diesem Konzert Musiker des Gustav-Mahler-Jugendorchesters mitwirkten, zu einer ausdrucksstarken und sehr lebendigen Interpretation, die selbst im turbulenten 5. Satz nie über das Ziel eines noblen, transparenten Gesamtklangs hinausschoss.
(12.5.14)

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