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Deutliche Worte, klare Töne

Gidon Kremer und die Kremerata Baltica mit „Mein Russland“ in der Semperoper

„All about Gidon“ – das Konzert der Kremerata Baltica in der Semperoper hätte eigentlich eine klingende Biografie des großen Geigers Gidon Kremers, seit Beginn dieser Saison Capell-Virtuos der Sächsischen Staatskapelle Dresden, werden sollen. Doch angesichts der aktuellen dramatischen Lage des Russland-Ukraine-Konfliktes änderte Kremer das Programm und stellte das Motto „Mein Russland“ voran. Es blieb dennoch ein „All about Gidon“ in der Hinsicht, dass Kremer ein Musiker ist, der sich nicht in den Elfenbeinturm der Partituren und Töne einschließt, sondern seismographisch auch die Welt, in der er und wir alle leben, aufnimmt.

Schweigen ist seine Sache nicht, denn „wenn wir wegschauen, sind wir bereits mit dem Gewissen beteiligt.“ Mit Tönen auf das Grauen antworten – geht das? Der Abend in der Semperoper bewies, dass Kultur und erst recht die Musik eine Sprache zu sprechen imstande ist, in der zumindest ein Bewusstsein und eine Sensibilisierung entstehen kann. Mit den Tönen kann sich jeder persönlich auseinandersetzen, sich nah oder mit Distanz positionieren und überlegen, was die bessere Variante ist: „falsche Töne“ gibt es in der Musik nicht, so Kremer – man spiele jede Musik mit authentischem Anspruch. Das sei in der Politik mit ihren Floskeln leider anders.

Eine Gesprächsrunde war in das Konzert integriert, in der Gidon Kremer sein Herzensanliegen unterstrich: „Kunst hat die Aufgabe, uns von der Gleichgültigkeit, die wir über die Massenmedien und durch Entertainment entwickelt haben, abzuwerben.“ Kremer ist baltischer Herkunft, hat aber prägende Jahre seines Lebens in Moskau verbracht. Mit dem Konzertprogramm wolle er die schwermütige, nachdenkliche, auch ethische Seite von Russland vorstellen. Als im Gespräch der Satz fiel „Es gibt keinen Weg, aber wir müssen ihn gehen.“ wurde offensichtlich, dass es keiner weiteren Worte bedurfte, dass die vorgestellte Musik am Ende stärker war, wo sich im Gespräch eine erschütterte Sprachlosigkeit anbahnte. „In der Musik ist kein Haß“, konstatierte Kremer und trotz aller stilistischen und thematischen Unterschiede und der unterschiedlichen Wurzeln der Komponisten konnten die vier vorgestellten Werke auch in friedlicher Koexistenz bestehen und gegenseitige Bereicherung erfahren.

Ein Werk der aktuellen Capell-Compositrice Sofia Gubaidulina eröffnete den Abend und schärfte gleich die Konzentration: ihre Reflexionen über „B-A-C-H“ sorgten in kompromissloser Reduktion des Materials für eine Klarheit des Geistes, mit dem man erst einmal aufnahmefähig wurde. Der Komponist Leonid Desyatnikov ist Ukrainer und lebt in St. Petersburg – seine „Russischen Jahreszeiten“ für Sopran, Violine und Streichorchester sind ein faszinierendes Konglomerat aus Volksmusik, geistlichem Melos und bildhafter Zeichnung ursprünglicher Gefühle und Stimmungen – von Kremer, der Sopranistin Olesya Petrova und der Kremerata Baltica wurde das intensivst ausgekostet.

Mieczyslaw Weinberg (1919-96) ist ein erst in den letzten Jahren wiederentdeckter russischer Komponist mit polnischen Wurzeln – seine späte 2. Kammersinfonie beeindruckt durch eine tiefernste Haltung, die sich nur ab und an zu einem freundlichen Lächeln oder untergründigem Humor lichtet. Kremer, zuvor noch solistisch aktiv, übernahm hier das Konzertmeisterpult – sein Orchester zeigte hier wie in allen Werken des Abends einen packenden Zugriff bis hin in die hintersten Geigenpulte. Klanglich verstehen sich diese Musiker blendend und die Führung durch Gidon Kremer ist ebenso konzentriert wie kreativ-spontan.

Dass Russland einen besonderen Sinn für Humor und Satire hat, zeigte das letzte Werk des Abends, das etwa in der Tradition der „bissigen“ Werke Dmitri Schostakowitschs oder Alfred Schnittkes steht: mit unverhohlenem Spaß nimmt Alexander Raskatov in „The Seasons‘ Digest“ Peter Tschaikowskys Klavierzyklus „Die Jahreszeiten“ auseinander, ohne dabei den Respekt zu verlieren: da wird getanzt, gejohlt, gepfiffen und über Väterchen Frost geklagt, dass es eine Wonne ist; die russische Seele bleibt dabei authentisch, selbst wenn sie über die Stränge schlägt. Den großen Jubel des Publikums beantworteten Kremer und die Kremerata Baltica mit einem echten „Rausschmeißer“, wiederum von Mieczyslaw Weinbergs. Von ihm wird noch viel zu hören sein. Und Gidon Kremers Konzert in der Semperoper hat deutlich gezeigt: es tut gut, wenn auch der klassische Musikbetrieb sich nicht in Selbstrotation des ewig gleichen Repertoires erschöpft. Wir brauchen die Auseinandersetzung mit Musik, mit Kunst dringender denn je.
(20.9.)

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Veröffentlicht in Rezensionen

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