Liza Lims Oper „Tree of Codes“ bei den Tonlagen in Hellerau
„Die Realität ist dünn wie Papier“ – ein Satz, der relativ spät in der Oper „Tree of Codes“ von Liza Lim erscheint, hätte den Zuhörer früh auf eine Spur lenken können. Wer sich unvoreingenommen auf das neue Musiktheater der 1966 im australischen Perth geborenen Komponistin einließ, das am Mittwoch in Koproduktion mit der Oper Köln beim Tonlagen-Festival in Hellerau erklang, musste sich gleich durch einen ganzen Wald von Kodierungen arbeiten, viel mehr noch: war es sogar Absicht von Komponistin und Regisseur, dass man sich in diesem Werk komplett verlieren konnte, verlieren durfte?
Zumindest Anlass und Umsetzung sind einigermaßen klar, führen aber bald in einen weitverzweigten Raum der Kunst, in dem Lim und der Regisseur Massimo Furlan derartig fix unterwegs sind, dass man als Zuhörer schwerlich hinterherkommt. Die Kurzgeschichtensammlung „Die Zimtläden“ des polnischen Autors Bruno Schulz aus dem Jahr 1934 – schon für sich genommen ein sprachgewaltiges, auch rätselhaftes Meisterwerk – hat der US-amerikanische Autor Jonathan Safran Foer in ein literarisches Kunstwerk verwandelt. Mit Auslassungen und Perforationen des Papiers („Cut-Outs“) entstand eine neue Sichtweise auf die Geschichten, und nun ist der Leser selbst aufgefordert, Bedeutung, Lücken und tiefere Schichten zu einem Sinn zu ordnen. Bei Liza Lim treten Musik, Schauspieler, Sänger und ein ebenfalls auf der Bühne permanent agierendes Instrumentalensemble hinzu, samt gnomischem Dirigenten (Clement Power) am rotierenden Pult.
Geordnet wird alles in vier Akte, die reflektierende und phantasierende Suche des Sohnes (trotz Indisponenz in stimmlich hervorragend ausgestalteter Hauptrolle: Christian Miedl) nach der Vater(-figur) steht stets im Fokus des Geschehens und hält diese Oper, die wie eine Naturgewalt daherkommt und auch so konzipiert ist, zusammen. Auch Emily Hindrichs (Adela) überzeugt mit glockenklarer Stimme, Yael Rion (Vater) und weitere stumme oder nasenflötende Protagonisten ergänzen das starke Bühnenspiel. In einem wesentlichen Punkt muss das Unterfangen zum Scheitern verurteilt sein: wenn eine Komponistin eine Geschichte, die ein Autor aus einer Geschichte reflektiert, vertont und ohnehin alles im Zwischenbereich zwischen Realität und Phantasie, Poesie und Literatur schwankt und dies in einer klassischen Opernsituation in ein endgültiges Bild gezerrt wird (hier: ein vorwiegend kalt und technisch anmutendes Labor, in dem der Übergang von Leben zu Tod, von Gegenwart zu Erinnerung einigermaßen kafkaesk zelebriert wird), so entfernt man sich sehr schnell wieder vom Phantastischen, will man beim Zuhören eigentlich entfliehen, wo man qua Partitur an einen definitiven Punkt gesetzt wird: Hier, lies. Hier, höre. Da, verstehe!
Schöner scheitern mit Liza Lim? Das gelingt auf jeden Fall, denn was sie musikalisch anbietet, ist klangsinnlich, bisweilen in kammermusikalisch länger ausgebreiteten Szenen stark ausgearbeitet, und was das Ensemble Musikfabrik – etwa mit wunderbaren Doppelschalltrichter-Blechbläsern ausgestattet, die den skurrilen Beerdigungszug anführen – szenisch wie musikalisch daraus macht, ist phänomenal. Ein Sprech-Atem-Walzer fällt da ebenso auf wie eine Daumenklavier-Arie oder ein immer wieder zwischen lyrischem Dasein und Multiphonics changierendes Fagott-Solo.
Während die ersten beiden Akte in Text wie Aktionen derart viel bedeutungsschwangeres Material auftürmen, dass es auch für eine moderne Nibelungen-Version gereicht hätte und gleichzeitig der Zuhörer sich das erste Mal nicht mehr auf einem Sitz wähnt, sondern in einem intellektuellen Vergnügungspark der Sprache und der Geste („Wir lieben jede Geste“, bestätigen die Übertitel auch sogleich…), fragt man sich am Ende, ob der ebenfalls vertonte Satz „Ein Haufen Unsinn, nur um zu welken und zu verderben“ nicht doch an der wahren Bedeutung der Oper kratzt. Dort aber wird Lim plötzlich pathetisch, und selbst dafür muss man sie gern haben: die Musikfabriker beginnen einen wunderbaren Gesang (auch das können sie!), während der Text weiterhin den Zeigefinger erhebt und von Visionen, Auferstehung und den „Augenlidern der Zeit“ fabuliert. Lagen da etwa Mahler und Klopstock doch nicht so ganz falsch? Und wäre es nicht viel besser, wenn wir an diesem Abend noch viel mehr Gelegenheit zum Wegträumen bekommen hätten? Eine weitere Auseinandersetzung mit „The Tree of Codes“ bleibt leider aus – die Premiere am Mittwoch war die einzige Aufführung dieses vielschichtigen, diskutierenswerten Werkes.
Foto: Paul Leclaire
(27.10.2016)
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