Ein Gespräch zu „Tabula Rasa“ von Arvo Pärt
Der estnische Komponist Arvo Pärt (*1935) ist in der laufenden Saison Capell-Compositeur bei der Sächsischen Staatskapelle Dresden. In Kammerabenden und Sinfoniekonzerten erklingt eine umfassende Werkschau des Komponisten. Im 2. Sinfoniekonzert kommt sein Doppelkonzert „Tabula Rasa“ (1977) zur Aufführung, gespielt von den beiden stellvertretenden Konzertmeistern Thomas Meining und Jörg Faßmann. Alexander Keuk sprach mit den beiden Geigern über dieses Schlüsselwerk von Arvo Pärt.
Normalerweise suchen Dramaturg und Dirigent die Stücke der Sinfoniekonzerte aus – kam man direkt mit dem Vorschlag des Pärt-Werkes „Tabula Rasa“ auf Sie zu? Sind Sie Spezialisten für diese Musik?
Thomas Meining: Wir haben uns über die Anfrage sehr gefreut, es ist eine große Wertschätzung für uns als stellvertretende Konzertmeister, nun als Solisten im Sinfoniekonzert spielen zu dürfen. Wir haben dann auch sofort zugesagt, weil wir beide mit dem Werk – und auch mit Arvo Pärts Musik – eine gewisse Erfahrung haben. Wir haben das Stück allerdings noch nie zusammen gespielt, aber jeder für sich hat das Stück zu diversen Gelegenheiten schon einmal gespielt. Anfang der 90-er Jahre lief „Tabula Rasa“ beispielsweise in einem Ballettabend an der Semperoper, dort auch gespielt von den Konzertmeistern Peter Glatte und Peter Mirring.
Jörg Faßmann: Die russische und sowjetische Moderne ist uns bei der Staatskapelle ja ohnehin sehr geläufig, nehmen wir Komponistenpersönlichkeiten wie Schnittke, Kancheli oder Vasks. In dieser Generation, diesen Traditionslinien, wozu dann auch Schostakowitsch und Prokofiev gehören, bewegt sich ja auch Arvo Pärt.
Dabei gibt es eigentlich wenig Orchesterwerke, die zu einer besonderen Pärt-Pflege beitragen könnten.
J. F.: Richtig, das geschah auch bei uns im Orchester auch bisher nur punktuell, etwa mit „Fratres“ oder „Cantus in memoriam Benjamin Britten“, daher sind wir nun auch sehr erfreut, dass wir durch seine Position als Capell-Compositeur in dieser Saison dem Publikum ein sehr breites Spektrum seiner Werke zeigen können.
Wurde Pärt eigentlich zu DDR-Zeiten gespielt?
T. M.: Nein, das ging einfach nicht, schon aus ökonomischen Gründen. Er ist ja 1981 in den Westen emigriert, und wir kamen kaum an die Noten heran, die überwiegend bei den großen West-Verlagen erschienen.
Ausgerechnet „Tabula Rasa“ verhalf Pärt zu einer Art Durchbruch, da das Jazz-World-Klassiklabel ECM mit dieser Platte – hier gespielt von Gidon Kremer und Tatjana Grindenko – 1984 sein Debut gab. Plötzlich war Pärt auch in der Jazz-Szene in aller Munde, und der Komponist hatte ja selbst nach einer langen Schaffenspause einen neuen Stil begründet. Ist das eigentlich Neue Musik, was wir da im Konzert hören?
J. F.: Ja, es ist Neue Musik, aber nicht im konventionell atonalen Sinne, sondern es ist eine farbenreiche, bildhaft tonale Sprache, die sehr emotional ist.
T. M.: Dieses Reduzieren auf eine Art Exzerpt, auf ganz klare, einfache Strukturen hin ist ja ein Merkmal seiner Musik. Pärt hat ein unheimliches Gefühl für Zeit und Timing, und er schafft es, den Zuhörer in einen anderen Zustand zu versetzen.
J. F.: …eine Art Trance vielleicht, wenn man sich als Zuhörer darauf einläßt.
T. M.: Die Aufnahme von ECM hat wirklich viele bewegt. Gidon Kremer hat sich ja für Pärt immens eingesetzt und wir sind auch immer wieder auf wunderbare Werke von Pärt gestoßen, die uns inspiriert haben und diese haben wir in kammermusikalische Programme eingebaut. Diese Musik berührt sofort.
Welche Rolle spielt den überhaupt der Titel „Tabula Rasa“ – reinen Tisch machen, womit?
T. M.: Ich würde es eher als ein weißes Blatt Papier übersetzen, eine Reinheit also, die vielleicht ein Geheimnis in sich birgt. Etwas Neues…
Welche Haltung muss man zu solch einem Werk einnehmen, wenn man doch ausgebildeter klassischer Geiger ist? Oder anders: was macht das Werk mit einem, wenn man es spielt?
T. M.: Zunächst sind es erst einmal Noten, die man spielt. Man muss sich natürlich in diesen Stil, diesen Geist sehr eindenken – das macht man aber bei jedem Komponisten. Bei Pärt muss man sich sehr zurücknehmen mit einem Interpretationswillen. Es verträgt keinen „persönlichen Input“ sozusagen, man muss die Musik klingen und leben lassen.
J. F.: Es gibt eigentlich keine avantgardistischen Spieltechniken in diesem Werk. Ich denke, wir sind auch mit Pärts Musik durch die russischen Traditionslinien, die wir ja sehr gut kennen, vertraut.
Und doch entsteht in der Zurücknahme eine besondere Emotionalität in dem Werk…
J. M.: Ja, die entsteht besonders durch die Rücknahme, durch die Empfindung, die die Musik auf einen selbst ausübt. Nehmen Sie als Beispiel „Spiegel im Spiegel“ für Violine und Klavier. Es gibt da fast nur große, leere Noten, man erkennt kaum eine rhythmische Struktur, aber diese Einfachheit erzeugt eine riesige Spannung. Man darf da gar nicht viel hinzugeben, das ist ganz wichtig.
Der 2. Satz von „Tabula Rasa“ hat sogar Eingang in die Palliativmedizin gefunden – „Silentium“ ist eine Art ‚Engelsmusik‘ für viele Menschen…
J. M.: Interessanterweise gilt das vor allem für den Zuhörer – dieser Satz wirkt wirklich sehr sphärisch-beruhigend. Aber wir haben auf der Bühne höchste Konzentration und extreme Intensität walten zu lassen. Kein klassischer Komponist hat je ein Werk komponiert, das so konsequent eine Linie zieht, und das muss man als Interpret nachvollziehen.
Pärts Musik wird oft als religiös, mehr noch als spirituell bezeichnet. Trifft das auch auf „Tabula Rasa“ zu?
J. F.: Ich weiß nicht genau, ob Pärt, ob dieses Werk religiös ist. Aber in dem Werk spiegelt sich doch einiges wieder, der Glaube an etwas, der Glaube an die Musik, an die Zeit. In diesem Sinne ist er auf jeden Fall religiös, auch wenn er nicht explizit immer die Dinge benennt.
T. M.: Pärt ist auf jeden Fall religiös, er ist zeitlos, er ist sehr radikal in seiner Reduzierung, seine Musik wird dann sehr klar auf diese Weise. Das ist auch eine Konsequenz, er hat das ja die letzten 30 Jahre immer weiter entwickelt.
J. F.: Arvo Pärt ist in dem Sinne auch sehr aufregend – nicht enervierend, sondern belebend und auch bereichernd, weil er aus kleinsten Elementen diesen riesigen Klangraum schafft.
Vielen Dank für das Gespräch!
* 2. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden, erneut am 16.10., 20 Uhr, Semperoper Dresden, Werke von Pärt und Mahler – Donald Runnicles Dirigent, Thomas Meining und Jörg Faßmann Violine, Karen Cargill, Mezzosopran, Michael Schade, Tenor, Sächsische Staatskapelle Dresden
* CD-Tipp: Arvo Pärt, Tabula Rasa, Gidon Kremer, Tatjana Grindenko Violinen, Alfred Schnittke Klavier ECM 4763878
Thomas Meining
– absolvierte die Spezialschule für Musik und die Hochschule für Musik in Dresden, Violinstudium bei Annemarie Dietze
– seit 1985 bei der Staatskapelle Dresden, seit 1987 stellvertretender Erster Konzertmeister
– Konzertmeister im Musica Viva Ensemble Dresden
– Primarius des „Dresdner Streichquartetts“
– vielfach als Solist der Sächsischen Staatskapelle aufgetreten, aktiv in der Kammermusik und mit zahlreichen Ur- und Erstaufführungen auch in der zeitgenössischen Musik beheimatet
Jörg Faßmann
– 1966 in Dessau geboren
– debütierte bereits mit neun Jahren als Solist mit dem Orchester
– Geigenstudium in Leipzig und Dresden (Gustav Schmahl / Reinhard Ulbricht)
– seit 1987 bei der Staatskapelle Dresden, seit 1989 stellvertretender Erster Konzertmeister
– Gründer des Dresdner StreichTrios (1995)
– Kammermusiker und Konzertmeister verschiedener Ensembles
– seit 1991 im Lehrauftrag an der Hochschule für Musik Dresden
Foto (c) Matthias Creutziger
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