Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ am Staatstheater Nürnberg, Inszenierung: Peter Konwitschny, ML: Marcus Bosch
Wie kann man sich einer Oper in der Nachbetrachtung überhaupt annähern, der die Überforderung, das Extrem, die Grenzüberschreitung und das Nicht-Aushalten-Können vom ersten Takt an mit voller Absicht und Vehemenz der Aussage „con tutta forza“ – nehmen wir die Partituranweisung des Komponisten hier wörtlich – innewohnt? Diese „forza“, eine unbändige, körperliche Kraft wird von alle Beteiligten in gleicher intensiver, (auf-)opfernder Weise verlangt, sie wirklich mit Hingabe zu begreifen, ist angesichts der zunächst dafür zu überwindenden Schwierigkeiten eine Meisterleistung. Merkwürdigerweise galt es in letzter Zeit – ähnlich wie es im Konzertleben Strawinsky „Le Sacre du Printemps“ oder manchen Skrjabin-Werken widerfahren ist – als très chic, „das Letzte“ aus den Potentialen des jeweiligen Hauses herauszuholen, durfte sich mancher Intendant oder Dirigent die Bombastkette umhängen. Genau dazu allerdings taugt Bernd Alois Zimmmermanns einzige vollendete Oper „Die Soldaten“ wenig, mehr noch: es fliegt einem um die Ohren. Was es ohnehin schon tut, aber genau das will gekonnt sein, denn erst die Bewältigung der monströsen Partitur eröffnet – freilich ungeahnte – Freiräume. Und damit sind wir schon beim Wesenskern der neuen, zu Recht sehr stark gefeierten Inszenierung am Staatstheater Nürnberg, die am vergangenen Sonnabend vorgestellt wurde und zu Intendant Peter Theilers letzten verantworteten Premieren gehört, bevor er nach Dresden an die Semperoper wechselt. Zudem fand die Oper drei Tage vor Zimmermanns 100. Geburtstag statt und zählt damit zu den zeitnahen, wichtigen Würdigungen des Komponisten – viele gibt es nicht in diesem Jahr.
Höchst gespannt war man darauf, was der 73-jährige Regisseur Peter Konwitschny aus der Oper machen, herausholen würde, was er sehen und hören würde und welche Bilder er für vieles Unsagbare fände. Schließlich ist auch diese Oper mittlerweile mit einer über 50-jährigen Aufführungsgeschichte gesegnet, und obwohl es sicher ein Jahrhundertwerk ist, könnte die erneute Einordnung der „Soldaten“ in unsere Gegenwart ein spannendes Moment sein. Konwitschny, der mit seinem bisherigen Lebenswerk Maßstäbe setzte, ist durch und durch Theatermann, und allein von der Phantasie und Erfindungsgabe her weiß er den „Choc“ und die – niemals unbegründete – Provokation ebenso einzusetzen wie niedere, grausam bekannte Instinkte zu bedienen oder gar zu unterhalten. Dass Konwitschny ausgerechnet Letzteres – neben den noch zu beschreibenden Freiräumen – unabdingbar einem Werk wie den „Soldaten“ zuordnet, hätte man nicht vermutet und er befindet sich mit dieser Sichtweise aber möglicherweise näher an den Absichten des Komponisten als manche seiner Regievorgänger, die schon im Orchesterpräludium mit dem auszugießenden Blutkanister auf der Traverse hockten.
Die Schwierigkeit der Inszenierung der „Soldaten“ ist indes neben dem Mammutaufwand und dem immensen Anspruch der musikalischen Darstellung auch das szenische Problem, dass Zimmermann an bestimmten Stellen eine klar formulierte Stoßrichtung vorgibt, deren Widerspruch nur einen ebensolchen Anspruch wie den des Komponisten vertragen kann, um überhaupt bestehen zu können. Alles andere würde sofort ins Lächerliche, Unverstandene oder – noch schlimmer – Unausgegorene führen. Konwitschny gelingt dieser Drahtseilakt über weite Strecken, der in Nürnberg stark „neu betrachtete“ 4. Akt bildet eine Ausnahme. Die Dekonstruktion der gesamten Oper dekonstruiert Konwitschny noch einmal und löst damit – ungeachtet einer genialen szenischen Lösung, nämlich das komplette Publikum zum letzten Akt auf die Bühne zu stellen – eine Art Opern-BurnOut aus.
Bereits im 1. Akt entscheidet sich Konwitschny, den pluralistischen Ideen von Zimmermann nicht bedingungslos zu folgen. Was normalerweise nach dem vierminütigen Blick in die orchestrale Hölle des Präludiums – so schnell wie von Marcus Bosch habe ich es noch nirgends vernommen, aber damit entfachen die Nürnberger Symphoniker eine unglaubliche, kontrollierte Hitzigkeit, die kaum einmal in den kommenden gut zweieinhalb Stunden abnehmen wird – ziemlich schnell in visuelle Überforderung mündet, putzt Konwitschny mit seinem Bühnenbildner Helmut Brade erst einmal ordentlich aus. Kleine Kulissenwände fahren herunter, Tisch und Sessel werden aufgestellt, zwei handelnde Personen – fertig. Oder Marie irrt durch den Riesenraum der kulissenlosen Bühne, lediglich eingeschlossen von Schlagzeugbatterien, die sie schließlich umzingeln: ein herrliches Bild von Leere und Grauen, zwischen den rhythmischen Kaskaden sinkt sie nieder: „Gott, was hab ich Böses getan?“
Susanne Elmark in der Hauptrolle beginnt kokett; sie bleibt stimmlich den ganzen Abend überragend, weil sie in ihrer Partie immer wieder die leichten, entspannten Passagen findet, die die nächste Koloraturachterbahn auf natürliche Weise ermöglichen, und das auch noch kopfüber im Sessel hängend – das gilt ebenso für Solgerd Isalv als Charlotte, die die Entfremdung von der sorglosen Schwester gut herausarbeitet. Der Niedergang der Marie ist nicht immer in der Szene direkt nachvollziehbar, mit Absicht: Marie bleibt in der Unschuld, sie ist in Wirklichkeit der getretene Fußball, der beim zweiten Auftritt der Wald-Szene, wo sich das Männerpack trifft, bereits luft-atem-leer im Tor liegt. Konwitschny vermeidet in der gesamten Oper die Darstellung der Soldaten und von allem Militaristischen. Das ist eine Überraschung, und zumindest entfernt sich der Regisseur an diesem Punkt deutlich von Zimmermann und auch von Jakob Michael Reinhold Lenz – die Dimension des Politisch-Gesellschaftlichen wird dann im 4. Akt dann endgültig ausgelöscht zugunsten der nicht minder erschreckenden, trotzdem hochbekannten Sichtweise: es könnte jeder von uns sein, Täter wie Opfer.
Während die Männerrunde – mit einem stimmlich etwas übersteuerten, sich aber steigernden Feldprediger Eisenhardt (Antonio Yang) mittendrin – anfangs noch eher harmlos im Wald Fussball spielt, ist die Caféhausszene ambivalent: Graue Anzüge, Konformität und gleichzeitiges Überdiesträngeschlagen erzeugt hier Angst „mit dem Geschmack des Komischen“ – wichtigste Requisiten sind der Maßkrug, das überdrehte Mikro, an dem Pirzel (überragend auch im Spiel: Hans Kittelmann) „Meine lieben Kameraden“ mit Philosophie nervt und für die Kapitalismuskritik stehen auch noch einige Laptops herum. Erst als Konwitschny die Bürokratenwelt in der Gräfinnenszene wieder aufnimmt, wird ein Schuh draus. Ein kurzer Schreckmoment entsteht, als beim In-Schutt-und-Asche-Legen der Szene respektive des Cafés ein Maßkrug bei den Celli im Graben landet. In Willy Deckers Inszenierung in Dresden landete 1995 gleich ein Teil des (zu Beginn nach unten zusammenstürzenden) Vorhangs bei der Premiere im Graben. Beides ging wohl glimpflich aus – totales Theater fordert Tribute. Konwitschnys Klarheit der Inszenierung des 1. Aktes befördert nun auch das Zuziehen der Schlinge im gesamten Stück und wirkt nicht ignorant gegenüber Zimmermann: das Buffoneske, Zynische und stellenweise auch Alberne ist nicht ziellos hingestellt, sondern immer mit dem Untergang im Hinterkopf abgründig.
Dafür steht beispielhaft die sich an und in einem – für die psychischen Befindlichkeiten der Protagonisten als völlig zu klein erweisenden – Bett abspielende 2. Szene des 2. Aktes, der wie ein Albtraum die Beziehungen der Hauptfiguren untereinander darstellt, im Wortsinn übereinanderlegt und durch Stolzius (Jochen Kupfer – stimmlich ebenso souverän agierend wie Uwe Stickert als Desportes, einnehmende Bühnenpräsenz dazugebend) phantasierende Würgehände schließlich verstummen läßt. Während Zimmermann in dieser Szene bereits auch räumlich simultan arbeitet, ordnet Konwitschny die Pluralität in die Seelen der Figuren. Dass das Gefährliche, Entsetzliche nicht entsetzlicher wird, wenn man es zeigt, ist eine Erkenntnis dieses Abends, der weder nackte Leiber noch vergewaltigende oder mordende Soldaten benötigt, aber durch Konwitschnys Spielbetreuung in jedem Moment (Wahnsinn etwa, welch übermütterliche Präsenz die Gräfin de la Roche – Sharon Kempton – in ihrer Arietta zeigt!) Vollbluttheater auslöst – statt Theater voll Blut.
Aussichtslos – dank Zimmermanns kompositorischem Genius wie auch theatralischem Riecher – ist auch das Entkommen aus dem Mahlstrom des Zuhörens, das allerdings in Nürnberg immer wieder einen inneren Jubel entfacht, so etwa aufgrund der Leistungen des famosen Orchesters, das Bosch immer wieder ins Musikalische zwingt, ebenso wie die Sänger Zimmermanns extreme Linien doch durchweg als singbare Oper auffassen, nicht als Unmöglichkeit. Dann plötzlich entstehen die Freiräume, wird die erste Generalpause im Stück zum Ereignis, kann sich Kammermusikalisches von Gitarre oder Jazzcombo ebenso Bahn brechen wie die saftig verzerrte Bach-Choralwelt. Konwitschnys Durchputzen verhilft auch dem 3. Akt zu einer bemerkenswerten Darstellung von Einzelschicksalen mehr denn einem vorgesetzten Bild von gleichzeitigen, sich bedingenden oder rotierenden Situationen und möglicherweise hat er damit Zimmermann einen Stachel gezogen, bleibt diese Entavantgardisierung das sicher kritikwürdige Element dieses Abends. Dass alles mit allem verbunden wird, setzt sich der Zuhörer selbst zusammen und damit definiert Konwitschny eben genau den eingangs beschriebenen Anspruch nahe am Komponisten, der vermutlich in mancher szenischen Vorgabe doch zu zielgerichtet führend agiert hat, als es theatralisch sinnvoll erscheint.
Womit wir beim 4. Akt angekommen wären, der eigentlich eine parallel in sich verschlungende, abwärtsführende steile Rutsche für Figuren UND Zuhörer darstellt, sich das Grauen bereits im Nicht-mehr-rezipierenkönnen manifestiert. Zimmermann überhöht es mit Kriegsdarstellungen, Surround-Tonbändern und Filmen, mit Krieg und Atompilz, Trommelgewittern – und auch die bereits leblose Straßenszene mit Marie und ihrem Vater ist ein nicht mehr aushaltbarer Kulminationspunkt. Konwitschny bricht diese Darstellung mehrfach und erreicht einige Umkehrwirkungen und Zerrvorgänge, wenngleich das körperlich hier noch mehr spürbare „im-Theater-sein“ die Wirkung eigentlich wieder aushebelt, dazu sorgt auch die hinzugefügte oratorische Sprechszene nach der ersten Simultanszene eher für Irritation (wir erklären Zimmermann, noch einmal der Reihe nach?), nachdem sich das Publikum auf der leeren Bühne eingefunden hat und bei geschlossenem eisernen Vorhang auch das Orchester nur vom Band übertragen wird – es spielt später in das leere Theater hinein. In der Simultanszene gleiten Scheinwerfer über das Publikum, in der Masse breitet sich spürbare Beklemmung aus, die Opernkonvention ist aufgehoben, man ist mittendrin, ahnungsvoll ahnungslos und vor allem die Musik ist oben unten rechts links vorne und hinten. Das „Mittendrin“-Gefühl ist allerdings nur gegeben, wenn die live spielenden Schlagzeuger im Bühnenraum loslegen. Das Orchester erscheint weit weg und ist unsichtbar, die Sänger, die ihre folgende Szene aus dem 1. Rang spielen, singen gar „da lontano“.
Die Oper verläßt uns also akustisch regelrecht, obwohl wir gleichzeitig vereinnahmt und aus unserem individuellen Hörerlebnis plötzlich in ein spürbar kollektives verfrachtet wurden. Die Entfremdung von allem verstärkt sich immer mehr, da nun Marie auf diesem Campus der verlorenen Opernbesucher auftaucht und um Almosen bittet, der Vater Wesener (von Tillmann Rönnebeck sehr eindringlich gezeichnet) wird nicht mehr erkannt. Schließlich verzichtet Konwitschny nach den Trommelmärschen auf die Zuspitzung durch Film und Audiozuspielungen, stattdessen wird über Monitore ein Herzschlag eingeblendet, der schließlich den Exitus zeigt. Eine vereinfachte Lösung? Es ist ein Ende einer Oper, für die es keine Ende gibt, für die auch der Komponist eigentlich kein Ende gefunden hat. Am Ende bleibt das, was verloren ist, und das ist unzeigbar, uninszenierbar, weil es in uns ist und betrachtet und gepflegt werden muss. Für die Riesenleistung des Nürnberger Ensembles samt Gästen, das bis in die kleinsten Rollen Qualität zeigte, gab es einmütig großen Applaus und viele „Vorhänge“ hinüber in die beiden Ränge.
Weitere Vorstellungen am 20. und 25. März sowie am 8., 14. und 23. April. BR Klassik überträgt die Vorstellung am 20. März live.
Fotos (c) Ludwig Olah
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