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„Ein französischer Traum“
Debütalbum von Laura Farré Rozada

Wenn es etwas in der klassischen Musik gibt, worüber man sich zukünftig zumindest quantitativ keine Sorgen machen braucht, so ist es der Pianistennachwuchs. Dann und wann freuen wir uns auch über spannende Persönlichkeiten, die in der sehr aktiven Generation der unter 30-jährigen schon herausragen. Und vor allem aus Russland meldet sich bereits die nächste Generation. Dort zählt noch die harte Wettbewerbsschule und meist sehen die Tschaikowskywettbewerbler leider auch mit knapp 20 schon etwas müde aus. Und was folgt? Viele junge Pianisten werden einmal mit vermarktbarem Makel, Accessoire oder Allüre quer über den (Label-) Markt gezogen, um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden: Korre an der Hochschule, Musiklehrer oder Berufswechsel. Möglich, dass der Arzt, der Sie morgen im OP von einem Leiden befreit, auch „Rach 3“ ganz ordentlich spielen kann. Und ein tolles Schumann-Debütalbum hatte, mit den „Kinderszenen“ natürlich. Wie alle anderen auch. Oder auch Debussy, der ist ja jetzt 100, da muss man mitgehen, spielt sich auch gut und, ja, „stunning colours“. Klassisch sind sie nahezu alle unterwegs.

Und dann kommt Laura Farré Rozada. Und zwar nicht mit nordischem Melancholiegeklimper „über Bach“, Hipsterbart oder Auftritt im TV-Morgenmagazin, sondern mit der Dutilleux-Sonate. Moment, Dutilleux? DER Henri Dutilleux? 20. Jahrhundert? Auf einem Debütalbum? Sie haben richtig gelesen. Und der Rest des Albums ist nicht nur 20., sondern auch noch 21. Jahrhundert. Und nahezu komplett französisch. Sogar mit einer Auftragskomposition. Dafür ohne Debussy. 2018. Und das sollte man sich anhören, denn nach diesem Album, das Farré „The French Reverie“ – einen „französischen Traum“, genannt hat, hat man seinen musikalischen, gar seelischen Horizont um einiges erweitert und ein Musikerlebnis hinter sich, was nicht erschöpft, sondern absolut hungrig auf mehr macht.

„The French Reverie“ – das Debüt-Album von Laura Farré Rozada

Thierry Escaich – Jeux de doubles (2001)

Olivier Messiaen – Prelude n.8 „Un reflet dans le vent“ (1929)

Philippe Manoury – Toccata (1998)

Ofer Ben-Amots – Akëda (2000)

Henri Dutilleux – Sonate pour piano (1946-1948)

Joel Järventausta – La vehemència del despertar “for Laura” (2016)

Vladimir Djambazov – 33:8 (1981/2016)

Ohnehin im Web fast per Zufall entdeckt, googelt man natürlich nach den ersten wild um die Ohren irrlichternden Tönen von Thierry Escaichs „Jeux de doubles“ ihre Biografie. Die nächste Überraschung: die in der Nähe von Barcelona geborene Katalanin, die an der Escola Superior de Música de Catalunya bei Jean-François Dichamp und am Royal College of Music in London bei Andrew Zolinsky studierte, hat parallel zu ihrem Klavierstudium auch einen Bachelor in Mathematik abgelegt. Und das klingt in ihren eigenen Worten authentisch, gar zwingend, klar, auch „crazy“. Es musste so sein. Ihre Neugier und Forschergeist – aus einer nichtmusikalischen Familie stammend übrigens – brachte Sie schnurstracks, mit kleinen Abstechern über andere Instrumente, Bands, Rock und Indie, Chören und Komponieren, zur zeitgenössischen Musik an Tasten. Laura Farré lebt in der Gegenwart und sie gestaltet Gegenwart. Musik und Mathematik, ihre beiden Talente und Leidenschaften, bereichern sich gegenseitig, und auf ihrem dem „französischen Traum“ gewidmeten ersten Album zieht sich eine freundschaftliche, sich keinesfalls widersprechende Verbindung von Struktur und spielerischem Loslassen, von Leichtigkeit und Logik wie ein roter Faden durch die Stücke.

Womit wir auch bei dem zentralen Werk der CD wären, nämlich der 1947 entstandenen, kaum bekannten Klaviersonate von Henri Dutilleux (1916-2013), in der alles angelegt scheint, was seine späteren großen und großartigen Werke bestimmen wird. Vor allem scheint hier sofort sein zart poetischer Geist auf, der Pfade eines gärtnerisch-musikalischen Wachstums anlegt, Landschaften zeichnet, unerhörte Farben malt und trotzdem nie seine Wurzeln abschneidet. Farré ist mit herausragender Technik und – im Wortsinn – spielerischem Instinkt imstande, das alles offenzulegen. Ihre ruhig angelegten, immer präzisen Steigerungen verwischen nie die für Dutilleux‘ Fortschreitungen so wichtigen harmonischen Konturen; Farré gelangt auf eine Weise in sehr nahen, intimen Kontakt mit dem Komponisten, das zeichnet auch die choralartigen und hymnischen Passagen des Stücks im 3. Satz aus. Ihn selbst hat sie nicht mehr kennenlernen können, ebensowenig wie den 1992 gestorbenen großen Olivier Messiaen, der in der Reihe der einflussreichen französischen Komponisten des 20. Jahrhunderts auf der CD ebenfalls mit dem frühen, spätere neue Welten ahnen lassenden Prélude „Un reflet dans le vent“ einen Ehrenplatz erhält. Alle anderen vertretenen Komponisten oszillieren wie Fixsterne um Dutilleux. Das passt nicht nur, das ist Absicht eines klug zusammengestellten Albums, denn in den rhythmischen und harmonischen Strukturen ist das kompositorische Denken aller Komponisten auf „The French Reverie“ verwandt – und doch eigenständig, unabhängig.

Das betrifft auch die drei nicht französischen Komponisten der CD, den Bulgaren Vladimir Djambazov, den israelisch-US-amerikanischen Komponisten Ofer Ben-Amots und den Finnen Joel Järventausta. Mit allen lebenden Komponisten dieses Albums hat Farré übrigens persönlich zusammengearbeitet, um den besonderen Blick der Komponisten auf ihre Werke in ihre Interpretation zu integrieren und letztlich noch tiefer in die Stücke vorzudringen. Auch damit gestaltet Farré Gegenwart. Sie gibt sich nicht mit dem Übe-Kämmerchen zufrieden, sie besucht Meisterkurse und schreibt auch über die Musik, die sie sich am Klavier erarbeitet.

Nach dem Dutilleux-Gipfel ist mit Joel Järventaustas „La vehemència del despertar“ ein Ruhepunkt erreicht. Vladimir Djambazovs 33:8 arbeitet mit irregulären bulgarischen Metren und rundet damit das Album ab, das mit aus rhythmischen Energien gespeisten Werken von Philippe Manoury und Thierry Escaich beginnt. Farré hat auch hier einen bewundernswert traumwandlerischen Anschlag, der sich, und das ist angesichts der metrischen Komplexität bewundernswert, eben nicht beim Bewältigen und Abspielen aufhält. Manourys Repetitionen wirken da wie eine musikalische Droge, der man nicht entrinnen kann. Aus diesem Grunde sei an dieser Stelle eine weitere Messiaen-Interpretation von Laura Farré Rozada beigegeben, das nicht auf der CD enthalten ist, aber – wie ich meine – sehr deutlich macht, dass Farré für Messiaens Musik eine ganz eigene, dennoch respektvolle Handschrift und Ausdrucksqualität entwickelt hat. Wo man oft in schwankenden Tempi oder metrischen Unsauberkeiten bei anderen Pianisten eine erreichte Grenze spürt – Farré überholt links, und das mit Lust:

 

Laura Farré Rozada organisiert derzeit eine Recital-Tour mit den Werken ihres Debüt-Albums. Wer in der Nähe von London, Sofia oder Barcelona lebt, sollte hinfahren. Ansonsten sei allen Lesern dringend zu wünschen, dass sie Farrés Spiel und ihre offene, sympathische Art, die Werke (auch im besten mathematischen Sinne!) als Kunst UND lebendig-selbstverständliche Natur zu betrachten, möglichst bald kennenlernen können. An der CD jedenfalls kann man sich kaum satthören. „The French Reverie“ ist bei einem kleinen spanischen Label als CD erschienen, aber vor allem digital auf allen großen Online-Portalen erhältlich.

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