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Nicht genug.

Sich unter Volldoping der oberen und unteren Atemwege in ein Opernhaus zu begeben sollte man eigentlich nur machen, wenn ein Stück auf dem Spielplan steht, das man überhaupt nur seltenst im Leben auf einer Bühne sieht. Gleichzeitig gehört „Moses und Aron“ für mich vielleicht zu den zehn, zwanzig bedeutendsten Opern der Musikgeschichte überhaupt, und um selbst die alle zu sehen, muss man sein kurzes Leben gut organisieren. Da hilft es, dass mit Peter Theiler ein neuer Intendant in Dresden seine Aufwartung ausgerechnet mit dieser Oper von Arnold Schönberg macht, das ist mehr als ein Zeichen oder eine Eintagsfliege, es ist eine Ansage. Die Staatskapelle hat seit den in dieser Hinsicht goldenen Sinopoli-Zeiten meist mit schüchternem Räuspern einen Bogen um die zweite Wiener Schule gemacht. Anders die Oper, die immerhin – mit Abstand – Die Soldaten, Lulu, mehrere Henze-Opern und zuletzt vor der Sommerpause und damit dem Intendantenwechsel einen beachtlichen „Il Prigionero“ von Luigi Dallapiccola herausbrachte. Stabübergabe mit der Zwölftonreihe also.

Über einen längeren Zeitraum hat sich das Haus immer wieder mit dem 20. Jahrhundert und seinen Experimenten auch in neuen Tonsprachen beschäftigt. „Moses und Aron“ wiederum ist bereits 1975, zum 100. Geburtstag von Arnold Schönberg im Haus am Zwinger von Harry Kupfer inszeniert worden und kam damals – nachdem die Oberen zunächst eine Deutungsabsicht erhielten, die das Stück überhaupt in die Nähe einer Aufführbarkeit rückte – zu 39 Aufführungen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, denn beileibe läßt sich hier kein Liedchen mitpfeifen. Doch Authentizität und Aussage sprechen sich herum. Und allein wegen des Stücks selbst müßte man auch die heutige Aufführungsserie nach den zunächst geplanten fünf Aufführungen in dieser Saison (ernsthaft, Semperoper?) fortsetzen. Schönberg in diesen 97 Minuten vollkommen zu erfassen und zu verstehen ist bei der Erstbegegnung schlechterdings unmöglich, weswegen ich auch diesen Text mit aller Vorsicht und weiterhin unter Salbeitee-Doping notiere.

Vielleicht ist hier ein kurzer Ausflug zur eigenen Holperstrecke der Erfahrung in der Annäherung an dieses Werk angebracht. Natürlich habe ich Schönberg im Kompositionsstudium und auch schon davor ausgiebig studiert: die Quartette, die fünf Orchesterstücke, Klavierwerke und vor allem das Violinkonzert. „Moses und Aron“ wirkte aber immer wie ein imaginärer Stacheldrahtzaun für mich. Ich kann mich erinnern, dass ich mich dann und wann mit der Schallplattenaufnahme befasste, die ebenfalls zum 100. Geburtstag von Schönberg entstand, als erste Aufnahme des Werkes überhaupt: Michael Gielen leitet das ORF-Orchester, Günter Reich ist Moses, Louis Devos Aron. Mehr zu der Geschichte dieser Aufnahme, hinter der ein Filmprojekt stand, gibt es beim ORF zu lesen, und einen Ausschnitt aus dem Film von Straub/Huillet poste ich hier einmal, es ist einfach sehenswert.

Zurück zur Platte – ich gebe zu, dass ich nie über die erste Plattenseite hinaus kam. Dass der Plattenwechselvorgang nach gut einer halben Stunde regelmäßig von mir verweigert wurde (und es gab einige Versuche), kann ich mir bis heute nur damit erklären, dass ich den Zugang zum Stück nicht wirklich fand. Auch wenn Libretto, Werkhintergrund und Biografie natürlich parat standen. Es ist bei einigen Meisterwerken so, dass man sie sich permanent über ein Leben lang erarbeiten muss, andere finden partout nicht zu mir und ich werde mich auch noch im hohen Alter mit Freunden verkrachen, weil ich einem unreflektierten Werkekanon eines „Best of Musikgeschichte“ nicht einfach zustimmen werde – ohnehin bin ich ja gerne am Rande unterwegs. So also habe ich damals „Moses und Aron“ schlicht vertagt.

Am Sonnabend nun hatte ich also die Gelegenheit, mich dem Stück erneut zu widmen, in Reihe 10 ganz am Rand, als Notfallschleudersitz gewählt, weil meinem Husten Dodekaphonik schlicht schnurz ist. Trotzdem hielt ich nahezu ohne große Geräuschäußerung durch, vielleicht weil das Staunen zu zeitweiliger Apathie in den Bronchien führte. Doch bevor ich wenige Sätze zu meinem Eindruck der Aufführung sage, muss ich doch kurz ausholen, denn ich glaube, dass meine Problematik mit dem Werk u. a. mit dem immensen und auch komplexen religiös-philosophischen Anspruch zusammenhängt, der für mich eigentlich überhaupt nicht in das Genre Oper mündet, jedenfalls nicht im klassischen Sinne dessen, was alles mit Oper verbunden wird und auch von ihr verlangt wird. Insofern gehe ich mit Michael Gielen zusammen, der das Werk oratorisch verortet und „Impuls und Emotion vom gesungenen oder gesprochenen Wort“ ausgehen lassen will. Zudem schlagen für mich alle Einordnungen des Werkes fehl, die nicht von einem Experiment, einem Kunstwerk per se ausgehen. Und vermutlich kratze ich dennoch auch nach der erlebten Aufführung am Meisterwerksnimbus, weil sich Schönberg zu stark in den Kokon seines Systems zurückzieht, das gesungene und gesprochene Wort aber allein schon die Kettenhemden von Krebs und Umkehrung sprengen möchte…

Sich als Regisseur auf dieses Werk einlassen? Als Handgelenksübung geht das schonmal nicht. Und ich möchte Calixto Bieito auch gar nicht absprechen, dass er Tiefgreifendes erfahren und beabsichtigt hat. Allein: es reicht überhaupt nicht, beziehungsweise ist es teilweise im Ergebnis derart konfus, dass das Scheitern des Regisseurs am Sujet zwar etwa mit hilflosen Choreographien wunderbar demonstriert wird, aber muss man dann einen solchen Auftrag wirklich annehmen, um über Wochen der Erarbeitung hinweg dem Publikum mitzuteilen, dass man es eigentlich nicht hinbekommt? Leute, wenn es um Lust und Nacktheit im Stück geht, dann ziehen sich bitte alle aus oder keiner. Und entweder ich thematisiere es oder nicht. Aber wenn sich drei ausziehen, die am Rande schamhaft mit den Körpern zucken, dann habe ich als Zuschauer den Eindruck, da ist eigentlich was schiefgegangen. Ebenso wie beim avantgardistischen Nichtschocker des Abends – nackter Mann mit Ziege betritt die Bühne, schaut sich um und geht wieder.

Was Bieito als Radikalität anbietet, ist nicht radikal genug. Der Kasten, das wie ich finde, durchaus gelungene „Gedankengebäude“ – eine Bühne von Rebecca Ringst -, wäre mit seiner Fallhöhe und den Schrägen noch mehr nutzbar. Der absolut fabelhafte Chor (Einstudierung Jörn Hinnerk Andresen) ist natürlich per se ein Problem (je)der Inszenierung dieses Werks, weil hier eigentlich die Crux eines perfekten Sänger-Schauspieler-Tänzers (x 60 Personen) gefunden werden müßte. Der Sächsische Staatsopernchor, unterstützt vom Berliner Vocalconsort, geht hier mutig an seine Grenzen. Die Überschreitung wäre notwendig gewesen, findet aber von Bieito aus nicht statt, wird vermieden. Und so denkt man eigentlich, auch aus der Partitur müßte es mal schreien, bersten und brechen, denn es geht um die großen Themen der Welt. Macht, Führung, Religion, auch Menschlichkeit, Glaube und Individualität. Alan Gilbert schafft es erst einmal in einem unglaublichen Kraftakt, das Stück von der bloßen Ausstellung der Konstruktion zu befreien, die kalt und staubig wirken würde. Er ackert im Graben, zieht Tempi an, stürmt und wütet, fast glaubt man, Strawinsky hätte in Dresden angerufen. Plötzlich bekommt dieser „Moses“ eine ungeheure musikalische Wucht und Dichte, man möchte fragen: Schönberg, wie hältst du es eigentlich mit der Großform? (Ich spare mir das für den nächsten Plattendurchlauf auf). Und doch muss Gilbert ebenso wie Bieito scheitern, denn die Kapelle reagiert auf diesen Willen vom Pult her mit reichlich Ratlosigkeit und Geklapper, vermutlich auch weil der metrische Grundpuls dauerhaft irgendwo bei der 42-Grad-Marke eines Fieberthermometers steht. Einige gehen mit, nicht alle.

Alle reiben sich also an diesem Werk – vom Chor ist vorab auf den privaten Seiten der sozialen Medien vom Schweiße des Angesichtes zu vernehmen. Sich nach dem Auswendiglernen der horrenden Partie auf die Massenszenen einzulassen, nötigt Respekt ab. Auch dies ist aber wieder ein Bild, das Bieito (für mich) nur im Ansatz gelingt; ich sehne mich hier auf der einen Seite nach der wasserperlenden Klarheit eines John Neumeier, dann aber auch nach Drastik und Überzeichnung, die hier in allen Bildern bei etwa 85% steckenbleibt. Warum bloß? Wenn die Deutlichkeit der Darstellung zurückgenommen worden ist, weil man die Konvention (!) der Provokation und Bluttheater vermeiden wollte, ist genau das gründlich schiefgegangen, dieses Werk fordert doch gerade den Umgang mit der Archaik und menschlichen Urinstinkten geradezu heraus, warum also das Herumlavieren in Plastikfolie und mit 3D-Brillen. Oh, sind wir etwa verblendet? Danke, wir haben verstanden. Am Ende der beiden Akte hat man zwar das Gefühl, Bieito hat eine durchkomponierte Übersicht über den Ablauf erlangt, aber die Botschaften – wenn er überhaupt welche zeigen wollte – verschwimmen im Äther.

Dass Bieto überdies mit den beiden Hauptpersonen nichts szenisch anzufangen weiß, ist dann schon richtig ärgerlich. Sir John Tomlinson (Moses) und Lance Ryan (Aron) stehen oder gehen meistens ohne klare Absicht ihrer Präsenz – wobei Aron mit Recht der Aktivere der beiden ist – auf der Bühne herum, und einige choreographierte Körpergesten wirken wie aus einem Skizzenbuch, einem Torso einer Interpretation eingefügt. Symbolik und Abstraktion hätten einen Faden der Interpretation bilden können, aber auch zu diesem kann sich Bieito eben nicht vollkommen bekennen – wieder nur Halbgares also, wenn die Opferszenen mit Körperkrämpfen dargestellt werden. Und ähnliches trifft für den Gesang von Lance Ryan zu, der vor allem Organ zeigt, aber keine Gestaltung der Partie, die sich von der Demonstration der Anstrengung einmal entfernen würde. John Tomlinson ist ein würdiger Moses, dessen Kraft und Entkräftigung, Nachgeben und Irren in den nicht abschließend beantworteten Fragen aber eben genau einer inszenatorischen Betreuung bedarf, die weiter über das „Ich ziehe mir jetzt mal mein Hemd aus“ hinausgeht. Herausragend besetzt, weil in der Konzentration deutlich auf den Punkt gebracht, sind hier einmal die Nebenrollen mit Tahnee Niboro, Christa Mayer, Simeon Esper und weiteren, auch aus dem Chor besetzten Rollen.

Am Ende ist es ein Stück, in welches ich wegen all dieser Zweifel und der weiterhin komplexen Gemengelage – ich habe ja noch kaum vom Inhalt und der Deutungstiefe religiöser Fragen begonnen –  noch einige Male reingehen würde, was allen Nochnichtbesuchern hiermit dringendst zu empfehlen sei. Denn wenn Bieto, Gilbert und alle anderen etwas erreicht haben, ist es die spannende Auseinandersetzung mit dem höchst zeitgenössischen Stoff von Weltens- und Glaubensbildung, von gesellschaftlichen Strukturen im Keim und im Kern. Dass man daran als Protagonist auf der Bühne oder im Graben, als Zuhörer oder Zuschauer scheitern darf, gehört bei diesem Werk wohl dazu. Mancher Gewinn offenbart sich erst später.

Fotos (c) Ludwig Olah

 

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