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Eurydike und der Mittelpunkt der Welt

Zweiter Tag der TONLAGEN – Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik in Hellerau

Nach dem Eröffnungskonzert am Donnerstagabend kam am Freitag erstmalig echte Festivalstimmung im Festspielhaus Hellerau auf, denn wer wollte, konnte satte fünf Stunden Konzerte erleben, Installationen entdecken oder im offenen Haus anderen Besuchern begegnen und ein Glas Wein genießen. Das Motto #stimme war in den ersten beiden Veranstaltungen unterschiedlich gedeutet und umgesetzt. Eine audiovisuelle Installation mit Performance von Helmut Oehring im Nancy-Spero-Saal hinterfragte das Wort eigentlich schon selbst. Hören und Nichthören ebenso wie Sehen, Erkennen und ein ganzheitliches Begreifen dessen, was da geboten wurde – das ging alles miteinander in Verbindung bei „EURYDIKE? ICH/SIE – I see. volume 1“. Es ist ein so genannter dokumentarpoetischer Zyklus, den Oehring mit diesem ersten zur Aufführung entwickelten Fragmennt begonnen hat und der sich in verschiedenen kompositorischen Formen vor allem mit der weiblichen Perspektive der Eurydice-Figur auseinandersetzt, einer Gestalt, die als Kunstfigur und Opernbasis durch alle Zeiten wabert, aber oft eben auch nur durch die männlich-orphische Partnerbrille betrachtet wurde.

Oehring gibt ihr auf wundersame Weise eine „#stimme“ zurück, holt sie vielleicht für kurze Zeit aus dem Hades hinauf, um zunächst einmal ein noch bedeutungsfreies Hinsehen zu ermöglichen. Es ist faszinierend zu beobachten, dass dieses Sujet, mit dem Oehring zwar schemenhaft visuell, aber in deutlich-bestimmter Komposition des Arrangierten umgeht, sofort berührt. Dafür sorgen auch die drei Performerinnen Kassandra Wedel, Emily Yabe und Mia Carla Oehring, die mit starker Körpersprache diesen auf dem Boden durch den Videobeamer abgesteckten Eurydike-Raum erfahren und mit verdreifachter weiblicher Energie aufladen. Die halbstündige Performance wirkte als Ganzes stark und geschlossen, und sie fand einen beruhigten Ausklang, der aber auch mitteilte: es ist genug für jetzt, aber es ist noch viel zu sagen zu diesem Thema.

Auf der Südempore des Festspielhauses war dann der Leipziger Pianist und Komponist Steffen Schleiermacher zu Gast in einem Gesprächskonzert, das in Kooperation mit der Sächsischen Akademie der Künste stattfand. „Schleiermacher spielt Schlünz und Saunders“ war der lapidare Titel eines dann sich vielen Sichtweisen öffnenden, klanggewaltigen Klavierrezitals. Es ist schon allein schwierig, die Rolle des Soloklaviers in der Literatur des 20. Jahrhunderts zu definieren, doch da braucht es eben genau so einen hellen Kopf wie Schleiermacher, der aus seinem immer Überraschungen bergenden Repertoire sechs Partituren aus dem Regal zieht und damit die Zuhörer in respektvoller wie auch ordentlich zupackender Interpretation begeisterte, gleich ob es sich um die ruppigen „Vier Klavierstücke“ von Friedrich Goldmann, Paul Dessaus möglicherweise als Uraufführung (Schleiermacher: „Dessau hat es komponiert, und die Noten lagen dann da“) erklingende Fantasietta Nr. 2 (1976) oder die mit Kategorien nur schwer zu fassende, sicher mit den beschreibenden Adjektiven brutal und extrem auch nur ansatzweise fassbaren Klaviersonate Nr. 5 der Russin Galina Ustwolskaja handelte. Letztere entzauberte der Pianist im Gespräch einigermaßen und erläuterte die im Stück auffindbare Schostakowitsch-Verehrung der Komponistin: „gefühlt 400x Des“ – die Initialen. In der kompromisslos-angriffslustigen, daher vielleicht aber auch fast zu schnellen Interpretation von Schleiermacher konnte man den Steinbruchaktivitäten auf dem Bechstein zusehen wie einer Dokumentation und sich gleichzeitig fragen, wie nah eine solche Musik („der Soundtrack der Breschnew-Ära„) im Jetzt verortet ist.

Steffen Schleiermacher

Brüche und Abgründe sowie Gegenentwürfe innerhalb eines Stückes waren vielleicht der Faden, der die sechs Beiträge, die in der Entstehung zeitlich rund um die Wende gruppiert waren, durchzog. Da wirkte Schleiermachers Komposition „lilâ“ insofern exotisch, weil er dort eine Idee, die Erfindung eines „eigenen Indiens“ sehr planmäßig bearbeitet hat. Genau um solche Punkte der künstlerischen Beeinflussung und Veränderung durch äußere Ereignisse ging es auch im Gespräch in der Mitte des Konzertes, moderiert vom Musikwissenschaftler Frank Schneider. Während die Komponistin Annette Schlünz auf die diesbezügliche Frage antwortete, es sei ein Zurückziehen in ihrem Werk nach der Wende spürbar – was auch in den sehr atmosphärischen Bildern von ihrem Klavierzyklus „verschattet“ (1991) aufschien, ist es bei Schleiermacher eher ein Haltgeben in festeren Konzepten der Kompositionen. Auffällig war auch, dass das mit Clustern und Nachklängen der Saiten spielende Stück „Shadow“ (2012) der Britin Rebecca Saunders, die in diesem Jahr den renommierten Siemens-Musikpreis erhalten hat, im Gespräch kaum eine Rolle spielte und im Kontext der anderen Werke in der Erinnerung verblasste – vielleicht auch, weil es das offenkundig unpolitischste Stück in der Runde war?

Das Gespräch indes nahm mancherlei skurrile wie auch erhellende Wendung, insbesondere als es über den Nimbus von Lehrer-Schüler-Beziehungen ging und die kategorischen Versuche von Schleiermacher und Schneider, sich von Kategorien fernzuhalten. Das wirkte in der Summe im Dreigestirn fast schon selbst wie ein Musikbeitrag, wobei das spannendste Statement wohl auf die Frage hin, wo die beiden Komponisten sich heute sehen, formuliert wurde: „Ich bin der Mittelpunkt der Welt“, formulierten sowohl Schleiermacher als auch Schlünz. Und geriet man bei mancher Äußerung von Schleiermacher vorher wegen absichtsvoller Doppelbödigkeit ins Schmunzeln, so durfte man hier zustimmen: genau mit diesen vom Zentrum ausgerichteten Antennen ist der inspirative Raum erst möglich.

Fotos/Video: Stefanie Wördemann / PR

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