Singakademie Dresden gedenkt Mauerfall vor 30 Jahren
Unter dem Titel „Basis: Demokratie – 30 Jahre Mauerfall“ gestaltete die Singakademie Dresden am vergangenen Freitag in der Kreuzkirche ein insgesamt dreistündiges Konzert aus, das zeitgenössische Musik, einen Vortrag von Friedrich Schorlemmer und die Aufführung der „Grande Messe des morts“ von Hector Berlioz zu einem musikalischen Monument verband.
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Moment, eine katholische Totenmesse eines französischen Komponisten, die 1837 in Paris in einem Staatsakt zur Betrauerung eines im Algerienkrieg gefallenen Generals gegeben wurde, wird anläßlich des Mauerfalls vor 30 Jahren am Allerheiligen-Tag in der größten protestantischen Kirche Sachsens aufgeführt? Etwas puzzlen musste der Geist da schon, um Hector Berlioz alle damals vorstellbaren Maße eines musikalischen Requiems sprengende „Grande Messe des morts“ mit den Ereignissen um den 9. November 1989 zusammenzubringen. Und doch, Ekkehard Klemm hatte sich genau dieses Werk zu dem Anlass des Konzerts ausgesucht, zudem zu Berlioz‘ 150. Todestag und in Kooperation mit dem Philharmonia Chor Stuttgart, denn den Unmengen an Blechbläsern und Pauken ist auch eine massive Chorstärke zuzuordnen – und die müssen auch noch einiges draufhaben, denn von höchsten Tenorhöhen bis zu anmutig leisen a-cappella-Sätzen greift Berlioz tief ins vokale Trickkästchen.
Ekkehard Klemm und die Singakademie Dresden gingen weitere Kooperationen für dieses Konzert ein, das am Freitag in einer musikalischen Punktlandung mündete: der blechtönende Nachwuchs des Heinrich-Schütz-Konservatoriums und des Landesgymnasiums für Musik gestaltete die Fernchöre, die Elblandphilharmonie Sachsen wurde um die Sinfonietta Dresden verstärkt, die ihrem eigenen 25-jährigen Bestehen damit ebenfalls ein Sahnehäubchen verpasste. Mit den 16 Pauken und dem verstärkten Orchester (bei den von der Partitur erforderlichen, dann doch nicht ganz vollständig erschienenen 108 Streichern drücken wir ein Auge zu), war der Altarraum der Kreuzkirche rappelvoll, die Chöre nahmen auf den östlichen Emporen Platz, der Tenor Edward Lee meisterte seinen Part von der Orgelempore. Mit Berlioz allerdings – und das ringt einem erst den ungläubigen Blick in die Konzertankündigung, dann Staunen und schließlich Respekt ab – war lediglich die zweite, gut achtzigminütige Konzerthälfte gefüllt.
Klemm spricht selber im Programmheft von „der Konflikthaftigkeit der Ereignisse, die geradezu nach einer künstlerischen Brechung, einem zeitgenössischen Kontrast verlangt haben“. Ist allein der Griff zu Berlioz schon einigermaßen wahnwitzig (und damit erst neues Denken, neues Fühlen überhaupt fördernd!), so gelang mit einer ersten Konzerthälfte, die ein Stück von 1970 mit einer Sinfonie aus dem Jahr 1990 und einem Vortrag aus dem Jetzt (Friedrich Schorlemmer) ein in der Monumentalität der Gedanken zu Berlioz gleichwertiger Teil. Am Ende hatte man noch damit zu tun, den Theaterdonner des Franzosen gegenüber den absolut existenziellen Umwälzungen, die sich in Lothar Voigtländers 3. Sinfonie „Salzauer“ Bahn brachen, in einer Balance zu halten.
Zu Beginn erklang Wolfgang Rihms Orgelstück „Parusie“, mit dem Martin Schmeding an der Kreuzkirchenorgel gleich einmal den Raum erbeben ließ. „Keine Gewalt“ hieß es die damaligen Volksrufe zitierend anschließend im Vortrag des Theologen und Bürgerrechtlers Friedrich Schorlemmer, der Demokratie und Grundgesetz mit der eigenen Positionierung und Verantwortung überzeugend verband und damit eine neue Kultur des menschlichen Miteinanders wenn nicht proklamierte, dann doch erhoffte.
Die musikalische Gewalt jedoch, sie durfte, sie musste an diesem Abend sein, um das eigene Betreffen des Themas, das Angehen und einen wie immer gearteten Vollzug erst zu ermöglichen. Schließlich saß auch jeder mit seinen eigenen Gedanken und Geschichten zu diesem 9. November in diesem Konzert. Die offenen Ohren im Publikum, diesen Anlass zu würdigen, kamen auch Voigtländers Sinfonie zugute, die hier einen sinnvollen Kontext ebenso erfuhr wie eine konsequent schonungslose Interpretation, die tiefe Erschütterung verursachte, weil der Choral „Aus der Tiefe rufe ich Herr zu Dir“ am Ende erst nach einer Musik aufblitzte, die sich selbst im letzten Satz in Fetzen zu reißen scheint. Es ist einigermaßen unklar, warum dieses packende Stück erst nach 30 Jahren eine Wiederaufführung erfuhr – Komponist und Publikum zeigten sich davon tief bewegt.
Schließlich stemmten alle musikalischen Kräfte die „Grande Messe des Morts“ nach der Pause, und das war von Ekkehard Klemm noch im Getümmel differenziert in den Satzcharakteren musiziert und von allen gemeinsam beseelt und konzentriert mitgetragen. Neben dem alles Vorstellbare sprengenden Akt, der im gemeinsamen Willen aller vollzogen werden muss (da hat die Straße viel mit der Musik gemein) ist es vermutlich der Gedanke des Visionären, den man anhand dieses Erlebnisses unbedingt mit in die Zukunft nehmen und vor allem auch mutig ausführen sollte.
Fotos (c) K.-D. Brühl
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