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„…und der Zukunft zugewandt“

30 Jahre nach dem Mauerfall – Dresdner Philharmonie lädt zu Thementag ein

Mit dem Mauerfall vor 30 Jahren – am 9. November 1989 durch Günter Schabowskis berühmten Satz in der ZK-Pressekonferenz „Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“ besiegelt – verbindet jeder von uns persönliche und sehr verschiedenartige Erinnerungen. Trotz des Wissens, dass um dieses Ereignis herum in Blickrichtung Vergangenheit oder Zukunft keine Eindeutigkeit oder Exaktheit der Beschreibung und Erinnerung erreichbar ist, erweitert die Auseinandersetzung mit diesem Datum, seinen Voraussetzungen und Folgen immer die eigene Perspektive und Erfahrung.

Die Dresdner Philharmonie lädt  am 9. November unter dem Titel „… und der Zukunft zugewandt“ zu einem kulturell-musikalischen Thementag in den Dresdner Kulturpalast ein. Dabei kann die Auswahl natürlich nur schlaglichtartig sein, was die Musik vor 1989 betrifft. Die nun zum Teil schon nicht mehr lebenden Komponisten haben ja sehr unterschiedlich auf den Mauerfall reagiert und auch das Musikleben, Institutionen, Ensembles und Festivals haben sich neu ausgerichtet. Manche Stimmen sind verstummt, andere haben die Wende wie auch andere Lebenspunkte künstlerisch reflektiert. Doch ein Großteil der Musik von vor 1989 verschwand in den Depots und Verlagskellern, eine erneute Aufführung der vielen neuen Kompositionen, die im DDR-Regime – beauftragt, gewollt oder geduldet – entstanden waren, interessierte nunmehr über eine Generation lang niemanden mehr. Das betrifft insbesondere das sinfonische Genre, innerhalb der Kammermusik hat sich auch nach der Wende eine eher selbstverständliche Lebendigkeit von Ost-Komponisten halten können.

AuditivVokal Dresden

Bevor der Blick im Kulturpalast am 9. November zurückgeht, schaut man in der Auftaktveranstaltung um 17 Uhr nach vorn, aus der Gegenwart in die Zukunft. Das Vokalensemble AuditivVokal Dresden hat nach einem Kompositionswettbewerb zum Thema „Musik – Demokratie – Europa“ insgesamt acht neue Werke erhalten, fünf werden am Sonnabend uraufgeführt, und zwar von Harald Muenz, Stefan Beyer, Hakan Ulus, Chatori Shimizu und Fojan Gharibnejad/Zachary Seely. In dieser vielschichtigen vokalen Auseinandersetzung mit dem Neuen könnte die Vielfalt Europas selbst unmittelbar sinnfällig erscheinen.

Dieses Konzert markiert den Auftakt des Thementages um 17 Uhr. Danach wird es um 18.30 zu einer einmaligen Wiederaufführung eines Skandalwerks kommen: bei der Uraufführung von Friedrich Schenkers Sinfonie „In memoriam Martin Luther King“ unter Leitung von Kurt Masur gab es 1972 im Kulturpalast Tumulte, lauten Protest und Türenschlagen. Besucher beschwerten sich anschließend in Leserbriefen über „Blechgetön und Disharmonie“, die Sinfonie sei „zu lang und zu laut“. Andere widersprachen und meinten, „wie Schenker mit seinen Mitteln ausdrucksstark Ekstase, Scheinruhe, Verzweiflung (und) Aufruhr darzustellen vermochte, sei ‚nicht zu überhören‘ gewesen“.

Es war damals ein Publikum, das sich in die musikalische Aufführung einmischte, und, wie es die Zeitzeugin Gertraude Busch bei der Pressekonferenz formulierte, das Werk sei sicher „in den ungewohnten Klängen eine Zumutung“. Doch es ist eben eine Besonderheit der DDR-Musikkultur gewesen, dass man ihren künstlerischen Stimmen regelmäßig und selbstverständlich Gehör verschaffte: sieben Uraufführungen in einer Saison waren bei der Dresdner Philharmonie nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Dazu gab es fast in jedem Konzert zeitgenössische Musik, weil die Kulturschaffung und –schöpfung viel mehr dem Handwerk und der Arbeit zugeordnet wurde. Schwieriger war daher die Abgrenzung einer Sinfonie mit dem Vorgang, eine Glühlampe einzudrehen, und mancher Parteitagsmarsch hatte kaum mehr inhaltlichen Tiefgang, wurde aber dennoch aufgeführt.

Georg Katzer

Die Präsentation zeitgenössischer Musik hat sich heute ebenso gewandelt wie die Frequenz der Aufführung und die Rezeption. Oft wird gelangweilt beklatscht, was auch vom Podium her irgendwie „mitgenommen“ werden muss. Wie wird da Friedrich Schenkers auf die Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King ohne Auftrag entstandene, als Bekenntnismusik unmittelbar reagierende Sinfonie heute (die Dresdner Philharmonie wird sie unter Leitung von Jonathan Stockhammer aufführen), 47 Jahre nach ihrer Entstehung aufgenommen werden?

Diese Frage stellt sich ebenso wie die nach der Relevanz und dem „Bleibenden“, die auch angesichts des um 20 Uhr präsentierten Kammermusik-Konzertes gestellt werden darf, das mit Werken von Dittrich, Hilbig, Katzer, Jetzsch und Goldmann, gespielt vom Collegium Novum Zürich, weitere Komponisten aus Ostdeutschland porträtiert, bevor der Thementag um 22.30 mit einer Filmdokumentation über den Komponisten Friedrich Goldmann zu Ende geht. Zwar ist der musikalische Thementag in diesem Jahr anlassbezogen, aber es könnte auch ein Auftakt zu einer Reihe sein, die nicht nur Werke dem Vergessen entreißt, sondern sie auch einer neuen Generation im Publikum erst einmal vorstellt und sie auf ihre Aussagekraft in heutiger Zeit unvoreingenommen befragt.

Tickets à 5 Euro pro Veranstaltung sind über den Ticketservice der Dresdner Philharmonie und an der Abendkasse zu erhalten.

Deutschlandfunk Kultur zeichnet den Thementag auf und sendet ihn am selben Abend zeitversetzt.

Samstag, 9. November 2019
Kulturpalast, Konzertsaal
„… und der Zukunft zugewandt …“
Thementag 30 Jahre nach dem Mauerfall

17.00 Uhr Musik – Demokratie – Europa
Fojan Gharibnejad/Zachary Seely: „hēmi“ für zehn Sänger (2019, UA)
Stefan Beyer: „Vi“ für Vokalensemble und Elektronik (2019, UA)
Harald Muenz: [ funda’men defi’nit ] für zehn Stimmen (2019, UA)
Chatori Shimizu: „Rightist Mushrooms“ für zehn Stimmen (2019, UA)
Hakan Ulus: „Auslöschung“ für zehn Stimmen (2019, UA)

AuditivVokal Dresden – Olaf Katzer, Leitung

18.30 Uhr I have a dream
Friedrich Schenker
„Sinfonie in memoriam Martin Luther King“ (1971)
Einführung und Podiumsgespräch mit Berichten und Zeitzeugen über die Uraufführung 1972 im Kulturpalast
Jonathan Stockhammer, Dirigent / Dresdner Philharmonie

20.00 Uhr Musik und Lesung
Paul-Heinz Dittrich: Kammermusik II für Oboe, Violoncello, Klavier und elektronische Klänge (1974)
Wolfgang Hilbig: Lyrik und Prosa (Lesung)
Georg Katzer: „La fabbrica abbandonata III“ für Ensemble, Sprecher, Sopran und Tonband (2010/11)
Text („Die verlassene Fabrik“) von Wolfgang Hilbig (1971)
Wilfried Jentzsch: „Tambligan“ für elektroakustische Klänge und Video (2010)
Friedrich Goldmann: Sonata a quattro für 16 Spieler (1989)

Jonathan Stockhammer, Dirigent / Peter Schweiger, Sprecher / Catriona Bühler, Sopran / Collegium Novum Zürich

22.30 Uhr  Film
Frank Schleinstein: „Zeit-Klänge: Klang-Szenen: Skizzen zu Friedrich Goldmann“ (1991)

zum Artikel in den Dresdner Neuesten Nachrichten, 6. November 2019

Fotos (c) Gerhard Richter, Angelika Katzer, PR Philharmonie

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht in Dresden Features

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