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Im Kellergewölbe der Gedanken

 

Robert Oberaigner hat Kompositionen für Klarinette von Mieczysław Weinberg eingespielt

Es ist immer wieder interessant zu beobachten, mit welchem Kanon von Musikwerken wir uns heutzutage umgeben und wie dieser sich verändert. Dass etwa Dmitri Schostakowitschs Werke heute zum Kernrepertoire der Sinfonieorchester gehören, war zu seinen Lebzeiten nicht unbedingt vorhersehbar. Andere, wie etwa der 1919 in Moskau geborene, ab 1943 in Moskau lebende Komponist Mieczysław Weinberg, hatten es angesichts des großen Schattens Schostakowitsch schwerer. Weinberg war Schüler Schostakowitschs und hat bei seinem Tod 1996 ein überreiches Oeuvre hinterlassen, das die Musikwelt nach und nach mit großem Staunen entdeckt.

In Dresden durften wir dank der Schostakowitsch-Tage in Gohrisch, der Oper „Die Passagierin“ im Spielplan der Semperoper 2017 oder dem Engagement des TU-Orchesters mit der 3. Sinfonie schon erahnen, was diese Musik ausmacht. Nun hat sich der Solo-Klarinettist der Staatskapelle Dresden, Robert Oberaigner, der Klarinettenmusik von Weinberg angenommen und die drei Stücke aufgenommen, die der Komponist diesem Instrument gewidmet hat. Als Oberaigner zunächst die Sonate kennenlernte, faszinierte ihn die „ungeheure Ausdruck“ der Musik Weinbergs und erkundete auch die anderen Stücke. Die CD, erschienen beim Label Naxos, ist nicht nur bestens geeignet, Oberaigners enorme Ausdrucksbreite auf der Klarinette zu bewundern, sondern auch den Komponisten Weinberg im Musikausdruck verschiedener Abschnitte seines Lebens kennenzulernen.

Die Stücke umfassen einen Zeitraum von 1945 bis 1992 – die 4. Kammersinfonie, die ein Klarinettensolo und neben dem Streichorchester ein Triangel vorsieht, ist gleichzeitig Weinbergs letztes vollendetes Werk. Neben dieser Kammersinfonie schrieb Weinberg für die Klarinette eine Sonate und ein Konzert mit Streichorchester. Man möchte vermuten, dass die jüdischen Verwurzelungen des Komponisten gerade hier besonders hervortreten, aber das vollzieht sich eher in feinen Melodiebögen. Eher ist man überrascht, welch einen intimen, keineswegs immer folkloristisch populären Klang Weinberg mit der Klarinette findet – Robert Oberaigner zeigt sich fasziniert davon, „wie Weinberg die dynamische Bandbreite der Klarinette auslotet und zwischen lyrisch-melancholischen Momenten und höchst dramatischen Sequenzen Kontraste bildet.“ Eher klassisch mutet die Klarinettensonate aus dem Jahr 1945 an, sicherlich auch aus dem Grunde, da Weinberg in dieser Zeit in der neuen Heimat Moskau erst einmal Fuß fassen musste. Berührend und von dunklen Erfahrungen des Krieges gezeichnet endet hier der zweite Satz in einer tiefen Tragik, nachdem genau dieses Allegretto eigentlich mit einem filmmusikartig kecken Thema angefangen hatte.

Solche Entwicklungen und die Fähigkeit, unter eigentlich harmlos scheinenden Strukturen ein ganzes Kellergewölbe dunkler Gedanken aufzufinden, ist oft ein Kennzeichen der Musik von Weinberg, so auch im Klarinettenkonzert aus dem Jahr 1970, mit dem die CD startet. Was da so munter von Oberaigner und den „Dresdner Kammersolisten“ –  ein Ensemble, das sich für dieses maßgeblich aus Kapell-Musikern zusammengefunden hat  – in Angriff genommen wird, erreicht schon bald im ersten Satz einen Punkt, wo diese Scherzo-Musik zerfasert und mit ganz abgetönt gespielten Trillern der Klarinette in einen fragilen Zustand gerät. Auch der 3. Satz möchte wieder mit signalartigem Humor auftrumpfen, doch hier ist die reale Welt bereits aus den Fugen, ein Durchhalten dieser skurrilen Figuren wäre eine theatralische Lüge.

Und so begleiten wir Oberaigner und Weinberg bei diesem Ringen um die Wahrheit und landen letztlich bei der enorm emotionalen 4. Kammersinfonie. Die allesamt als Spätwerke entstandenen Kammersinfonien sind laut Gidon Kremer, einem großen Fürsprecher der Werke Weinbergs, sehr persönliche und retrospektive Stücke, die wie Tagebucheinträge wirken und sich oft einer Erklärung verweigern. Die klassischen Formen und Harmonien sind hier stark erweitert und der Ausdrucksbereich ist karg und zurückgezogen, oft mit einer oder zwei Stimmen gerade noch vor dem Verstummen melodisiert. Oberaigner hat sich hier mehr als in den anderen beiden Werken der Verschmelzung mit dem Ensemble hinzugeben, das gelingt ihm ebenso herausragend wie seine solistische Persönlichkeit in der Sonate und im Konzert zu entfalten. Wieder ist ein markanter Baustein in der Weinberg-Wiederentdeckung hinzugefügt, und erneut stammt er von hervorragenden Dresdner Musikern, denen diese Musik immer mehr vertraut erscheint.

Foto (c) Olga Rachalskaya

 

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Veröffentlicht in Features Rezensionen

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