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Streaming-Performance als Lebenszeichen

Dresdner Musikfestspiele fanden als 24-stündiges Streamfestival „music never sleeps DMF“ statt

Wegen der Corona-Krise mussten die Dresdner Musikfestspiele in diesem Jahr abgesagt werden. Intendant Jan Vogler inszenierte stattdessen am vergangenen Wochenende ein 24-stündiges Online-Musikfestival mit einem internationalen Staraufgebot von über 100 Künstlern und herausragenden Darbietungen aus Klassik, Jazz & Weltmusik.

Es war einer der vielen traurigen Momente der letzten Wochen, als Jan Vogler, der Intendant der Dresdner Musikfestspiele, das Kulturhighlight des Frühlings coronabedingt absagen musste. Am Wochenende gab es als Trostpflaster das Streamfestival „music never sleeps DMF“ – einen Tag lang im Internet. Und damit wiederum auf der ganzen Welt, denn die Künstlerinnen und Künstler versammelten sich vor den heimischen Kameras, um einen musikalischen Beitrag aufzunehmen. Durch die Verbreitung im Rundfunk und auf den Social-Media-Kanälen war auch Publikum aus aller Welt dabei. In New York hatte Jan Vogler im März bereits einen 24h-Marathon produziert – es war eine erfolgreiche Generalprobe. Und die hatte sich offenbar herumgesprochen, denn das Line-Up für die Dresdner Ausgabe füllte sich nicht nur mit Musikern und Ensembles, die eigentlich für das diesjährige Festival geplant waren, sondern auch mit vielen weiteren Stars – von der Pianolegende Emanuel Ax bis zum Nachwuchsgeigentalent Kevin Zhu.

Gleich in der ersten Stunde sangen die King’s Singers.

Einige Performer wie etwa die Jazzsängerin China Moses waren live in den Chats vertreten. Das Programm war so vielfältig, wie man die Musikfestspiele in der Intendanz von Jan Vogler seit Jahren kennt und schätzt: Klassik, Jazz und Weltmusik waren ebenso präsent wie manche Grenzgänge. Fast alles fand auf einem herausragenden interpretatorischen Niveau statt trotz oft kurzfristiger Herstellung, bei dem mancher Pianist oder Sänger gleichzeitig Entertainer, Techniker und Kameramann war. Es gab einige Menge überraschende Beiträge, die man im „normal“ vielleicht gar nicht bekommen hätte – oder haben Sie schon einmal eine Komposition von Fabio Luisi mit dem Dirigenten am Klavier gehört? Der Geiger Gil Shaham steuerte sogar die Uraufführung „Isolation Rag“ von Scott Wheeler bei, andere Werke erklangen in neuen Bearbeitungen, die der aktuellen Besetzungsgröße in der Wohnküche entsprachen. Zwischen Kaffeemaschine und Bücherregal musizierte etwa Countertenor Valer Sabadus mit einem kleinen Ensemble barocke Arien, Dirigent Omer Meir Wellber griff zum Akkordeon, um mit Jacob Reuven den „Csardas“ von Monti zu musizieren.

Die Highlights der ersten Stunden lagen im nichtklassischen Bereich – mit Auftritten von Rufus Wainwright (aus Los Angeles an einem unter zahlreichem Klimbim kaum mehr erkennbaren Blüthner-Flügel), Jamie Cullum und Nils Landgren, der in Stockholm bei seinen Songs gleich seine Posaune auseinandernahm und – weiterspielte. Den Wachmacher für die Nachbarn bildete der finnische Akkordeonist Kimmo Pohjonen mit rockigen Elektronikexperimenten, und den wohl berührendsten Part übernahm der Mandolinist Avi Avital mit der berühmten Bach-Chaconne (die noch mehrfach erklang, zum Beispiel mit Harfenistin Anneleen Lenaerts) – in herausragender, atmender Interpretation.

Manche der Beiträge waren vorproduziert, oft solche von Künstlern, die wie der Dresdner Kammerchor als Ensemble ihre Zusammenkunft organisieren mussten. Andere, wie die King’s Singers oder das Ukulele Orchester of Great Britain, konnten sich nur virtuell zusammenschneiden lassen – mal witzig-launig und spontan, mitunter mit professioneller Versiertheit. Manche Musiker führten selbst in Beiträge ein, wobei Patricia Kopatchinskaja ihr mit Musikerkollegen improvisiertes Theaterstück „Ursonate“ von Kurt Schwitters ebenso wortreich erklärte wie Kimmo Pohjonen – der Finne hätte mehrere Filme seines sein Landsmanns Aki Kaurismäki ausfüllen können!

Gerade große Orchester waren unter den gegebenen Umständen ausgebremst, doch musste niemand ganz auf sie verzichten, denn das Festspielorchester der DMF hat vieles aufgenommen, die Ouvertüre aus Mendelssohns „Sommernachtstraum“ war bisher noch nicht gesendet worden. Auch der Auftritt des Orchesters des Mariinsky-Theaters im Berliner Konzerthaus mit Jan Vogler als Solist 2019 war ein glücklicher „Zuschnitt“. Einen eigenen Beitrag für den Marathon hatte der Festspielintendant auch, er spielte mit Mira Wang Erwin Schulhoffs „Zingaresca“.

Das Streamingfestival wurde neben Jan Vogler von einer Reihe von Künstlern moderiert. Tatort-Kommissar Martin Brambach wurde ebenso wie die leider exaltiert ablesende Katja Riemann für die Moderation zugeschaltet, Ute Lemper, Eric Jacobsen und Tiffany Poon moderierten im Duo, wobei die Influencer-Pianistin Poon während ihres Spiels den interaktiven Bereich des YouTube-Kanals sprengte, denn sie hatte zahlreiche Fans mitgebracht, die ihr ziemlich seichtes Chopin-Spiel bejubelten. Mit Charles Ives „Unanswered Question“, die dann tatsächlich auch aus New York kam, ging es voller Eindrücke in die Dresdner Nachtruhe für den ersten Rezensenten…

Martin Brambach mit Blumenbouqet live aus Recklinghausen.

Die Selektion, was man ansehen, anhören wollte, fiel beim Streamingmarathon anders aus als bei der Entscheidung, ob man zu einem Konzert geht oder nicht. Für Opern- und Klassikfreunde war der Auftritt von Bryn Terfel sicher ein Höhepunkt. Der Waliser sendete aus dem heimischen Wohnzimmer (passend mit dem Bild einer Küstenlandschaft im Hintergrund). Begleitet wurde von seiner Frau Hannah Stone an der Harfe. „Früher“ war es durchaus normal, zu einem anderen Instrument als einem Klavier zu greifen, wie einer Gitarre oder Harfe. Anders bei Julian Prégardien, der die Zuhörer mit einem kleinen Schubertzyklus erfreute, aber von seinem „begrenzten pianistischen Vermögen“ eingeschränkt war – ihm stand im Heimstudio kein Pianist zur Verfügung.

Wer lange wach blieb oder früh aufstand, kam in den Genuss des Spiels von Pierre-Laurent Aimard, eines der großartigsten Pianisten überhaupt. Er hatte Schönberg und Webern im Programm, kurz danach spielte die norwegische Geigerin Eldbjørg Hemsing eine Komposition von Tan Dun, der dann später selbst aus China zugeschaltet wurde. Zeitgenössisches hatte ebenso Platz im Stream wie Alte Musik, etwa mit „L’Arpeggiata“ und Christina Pluhar.

Trotz des Ausfalles loben die DMF auch 2020 den Glashütte Original MusikFestspielPreis für Künstler aus, die sich um die Vermittlung und Nachwuchsarbeit verdient gemacht haben. In diesem Jahr erhält ihn die Sopranistin und Dirigentin Barbara Hannigan für ihr Mentoring-Programm Equilibrium Young Artists. Im dessen Rahmen hatte sie unter anderem Igor Strawinskys „The Rake’s Progress“ erarbeitet und war damit im vergangenen Jahr bei den DMF zu Gast gewesen. Barbara Hannigan bedankte sich per Videobotschaft für den Preis und zeigte sich froh, in dieser Zeit etwas zu haben, für das sie „brennen“ kann. Den Drang, Musik zu machen, habe sie nicht verloren, sagte sie und versprach, das Preisgeld für jene Künstler einzusetzen, die gerade in der ersten Phase ihrer Karriere stehen. Einige von ihnen sowie Barbara Hannigan waren noch in Beiträgen zu erleben, bevor der Marathon mit Künstlern wie Mischa Maisky und Eric Clapton in die Zielgerade einbog.

Jan Vogler versicherte, dass die zahlreichen Videos auf den Kanälen der Musikfestspiele bis zum 12. Juni veröffentlicht werden sollen – Jazzstar Jamie Cullum machte den Anfang. Somit entsteht doch ein Festspielmonat mit faszinierenden Künstlern, die berührende Momente schufen, wenn auch diesmal etwas anders als gewohnt. Deshalb: wir wollen sie spätestens im nächsten Jahr alle wieder live erleben.

Autoren: Alexander Keuk, Wolfram Quellmalz / Bilder/Screenshots (c): Alexander Keuk

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Veröffentlicht in Features Rezensionen

Ein Kommentar

  1. Bouffler Bouffler

    The comment on Tiffany Poon is unfair to her. She cannot control what some of her fans say in the live comment section, and in fact she has even went on instagram to urge them to stop those disrespectful behaviours. It is very unprofessional of you to associate her fans‘ behaviour to her musical performance, which speaks volumes about your own professionalism. If you’d like to criticise someone’s performance, you are of course free to do so, but don’t make unrelated claims such as fan behaviour into the equation.

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