Neun Uraufführungen von Dmitri Schostakowitsch beim Online-Festival Gohrisch
Die 11. Internationalen Schostakowitsch-Tage in Gohrisch mussten wie viele andere Festivals vor den Corona-Beschränkungen kapitulieren. Aufgrund des schon im März vorgestellten spektakulären Programms mit insgesamt zehn Uraufführungen von Dmitri Schostakowitsch entschloss sich der künstlerische Leiter Tobias Niederschlag, das Festival nun als Online-Ausgabe in einem kompakten Konzertabend durchzuführen, um die aus dem Nachlass gefundenen und zur Uraufführung bereits edierten Stücke zum Klingen zu bringen.
So wurde aus der vertrauten Gohrisch-Atmosphäre ein digitaler Raum, der am Sonntagabend weltweit die Schostakowitsch-Freunde zusammenbrachte und durch das Zusammenspiel von MDR, Arte Concert und dem youtube-Kanal der Deutschen Grammophon eine enorme Reichweite erzielte. Damit folgten die Initiatoren eigentlich der Rezeptionsgeschichte des Komponisten, denn nicht selten traten die in Moskau oder Leningrad uraufgeführten Werke Schostakowitschs, während sie daheim noch bis auf die Knochen von Kritik und Verband auseinandergenommen wurden, rasant ihren erfolgreichen Weg um den Erdball an. Die neun Uraufführungen sind allesamt Klavierwerke und wurden dem Festival von der Association internationale „Dimitri Chostakovitch“ in Paris bereitgestellt. Aufgefunden wurden die Manuskripte von Dr. Olga Digonskaya, der Leitenden Archivarin des Moskauer Schostakowitsch-Archivs – sie sollte auch in diesem Jahr den Preis der Schostakowitsch-Tage erhalten; die Verleihung wird im nächsten Jahr nachgeholt werden.
Im Online-Stream ging es erfreulicherweise ausschließlich um die Musik selbst, so hatte man wirklich den puren Genuss eines konzentrierten Musikerlebnisses. Die aus Moskau, Greenwich/USA und Gohrisch zugeschalteten Interpreten gaben einige persönliche Sätze zu ihren Erfahrungen mit den Stücken hinzu, wobei Yulianna Avdeeva nach Schostakowitschs 1. Klaviersonate, die sozusagen als Einleitung in die fantasiereiche Welt des Komponisten diente, kaum außer Atem war, obgleich sie gerade eines der wildesten Beispiele jugendlichen Komponistenleichtsinns zelebriert hatte. Das ist aber nur eine Facette des jungen Schostakowitsch, dessen Geniestreich ja seine als Abschlussarbeit am Konservatorium eingereichte, weniger avantgardistisch ausgerichtete 1. Sinfonie war. Avdeeva spielte im Pavillon des damaligen Gästehauses des Ministerrates der DDR, in dem Schostakowitsch zwei Mal weilte – heute ist es ein Hotel, das aber bewusst die damalige Architektur und Atmosphäre einbezieht.
Avdeeva leitete über nach Greenwich, Connecticut, wo dann der Reigen der Uraufführungen mit Daniil Trifonov begann – daheim an seinem Fazioli-Flügel. Trifonov spielte demonstrativ mit Mund- und Nasenschutz, der aber keine Auswirkungen auf sein zupackendes Spiel hatte, es erschien eher als ein visuelles Zeichen für spätere Zeiten, unter welchen Umständen diese Einspielungen entstanden sind. Dmitri Schostakowitschs „Scherzo“ Opus 1, weist einen erstaunlichen Ausdrucksreichtum auf, und dem manchmal etwas grob wirkenden Klavierstil mit hämmernden Oktaven findet man ja auch in späteren Werken oder in ausgedehnten Unisono-Abschnitten in den Sinfonien wieder. Das Stück war in der Orchesterfassung bereits bekannt, die Uraufführung galt der wiederaufgefundenen Klavierfassung.
Trifonov fügte noch „Drei Fugen“ von Schostakowitsch hinzu, die als Handgelenksübung eines Komponisten gesehen werden können, dem es eher unangenehm erschien, gar nichts zu schreiben. Dass er selbst die Fugen eher als fad empfand – so beschreibt es der Editionsbericht der Schostakowitsch-Ausgabe, mag uns beim Hören nicht daran hindern, dass die Stücke sich problemlos als Vorstudien zu seinem großen Zyklus der später entstandenen „24 Präludien und Fugen“ Op. 87 erfassen lassen, der weit über eine rein technische Aufgabenstellung hinausweist.
Beachtlich erscheinen auch acht Klavierstücke aus den Jahren 1918-1920, die der junge russische Pianist Dmitri Masleev in herausragender Interpretation anschließend aus der Tschaikowsky Concert Hall in Moskau zum Festival beisteuerte. Sie beweisen etwa, warum sich Alexander Glasunow für die Förderung des 13-jährigen einsetzte, der in seine Übungshefte neben einigen klassischen Charakterstücken („Im Wald“, „Nostalgie“ – eine rasant startende „Bagatelle“ läßt aufhorchen) auch einen „Trauermarsch im Gedenken an die Opfer der Revolution“ notierte – Wochen zuvor hatte Schostakowitsch die Demonstrationen auf dem Newski-Prospekt hautnah mitbekommen; die Eindrücke verarbeitete er auch später in seiner 2. Sinfonie. Masleev spielte übrigens einen Tag nach Trifonovs Uraufführung ebenfalls das Scherzo Op. 1 ein und veröffentlichte es bei youtube.
Zum Abschluss hob Yulia Avdeeva im Hotel Albrechtshof in Gohrisch noch ein nachgelassenes, unvollendetes Präludium in cis-Moll aus der Taufe. Es entstand im Zusammenhang mit dem erwähnten Zyklus Opus 87, fand aber keinen Eingang darin. Die Skizze vervollständigte der Freund und Komponistenkollege Krzystof Meyer und vollendete das Stück mit einer hinzukomponierten Fuge zu einem geschlossenen Werk.
- Der Festivalstream „Schostakowitsch-Entdeckungen“ ist auf der Website des Schostakowitsch-Festival sowie bei ARTE Concert im Internet verfügbar.
Fotos (c) Vladimir Volkov, PR Schostakowitsch-Tage
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