Das Thema Debattenkultur scheint aktueller denn je, zumal wir derzeit vielfach aus Ausnahmesituationen heraus agieren, uns an den Grenzen unserer emotionalen oder geistigen Ausdrucksfähigkeiten befinden oder bewegen, die mit unseren eigenen Bedürfnissen und Wahrheiten zusammenprallen. Diese Melange, gemixt mit der Sucht nach Aufmerksamkeit, der Suche nach einem sicheren Platz in einer stark bedrohten Gesellschaft, und der permanenten (Reiz-) Überforderung durch und innerhalb der Medien erzeugt eine Atmosphäre, in der Werte vor allem der Kommunikation und des menschlichen Umgangs miteinander nicht nur verloren zu gehen drohen, sondern schon nahezu in Brand geraten und sich in ihre Gegenteile verkehren.
Vor einigen Tagen fand eine Mitgliederversammlung der Sächsischen Akademie der Künste statt, die solche Verhärtungen der Debattenkultur ins Zentrum ihres Austausches stellte.
Fast zeitgleich fand sich im Dresdner Stadtrat aufgrund immer wieder zermürbender Diskussionen und anhaltender Pöbeleien eine Initiative zu einer würdigen Debattenkultur (Bericht der DNN) zusammen, wobei die gekränkten Reaktionen innerhalb des Gremiums wie auch die schräge Berichterstattung darüber („Knigge-Frauen“) nur zeigen, wie notwendig das Engagement ist.
Beides kann man als positive Zeichen werten, dass die Suche nach Gemeinschaft vernünftig geführte Auseinandersetzungen nicht ausschließt, aber dass wir uns heute und künftig sehr aktiv und deutlich(er) darum bemühen müssen. Ich wüßte dazu selbst einige sehr harte und kompromisslose Schritte, bin aber auch gespannt, was diese hier geschilderten öffentlichen Initiativen bewirken. Ob der von der SAdK für den Anstoß der Diskussion verwendete und historisch besetzte Begriff Aufklärung in diesem Zusammenhang geeignet ist, grundlegende emotionale Störungen und Defizite im Miteinander aufzuarbeiten, bezweifele ich.
Im folgenden dokumentiere ich den Wortlaut der Pressemitteilung der SAdK:
„WIR BRAUCHEN EINE NEUE AUFKLÄRUNG
Die Sächsische Akademie der Künste plädierte auf ihrer Mitgliederversammlung gegen eine Verhärtung in der Debattenkultur
Die Sächsische Akademie der Künste diskutierte auf ihrer Mitgliederversammlung, die pandemiebedingt hybrid durchgeführt wurde, über die Möglichkeiten von Kultur und Kunst, in Prozessen gesellschaftlichen Wandels reflektierend und inspirierend wirksam zu sein. Die Diskussion ging weit über gefährdete Arbeitsmöglichkeiten von vor allem freischaffenden Künstlern und Künstlerinnen hinaus, auch wenn die aktuelle Pandemie diese Gefährdungen offengelegt und verschärft hat.
Im Zentrum stand die Frage nach der Zukunft unserer Gesellschaft. „Angesichts einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft nach vierzig Jahren neoliberaler Umverteilung muss sich eine Akademie den Diskussionen um neue Gesellschaftsmodelle stellen. Fragen der Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit sind Fragen nach der Zukunftsfähigkeit unserer Lebensform“, so Vizepräsident Jörg Bochow. Die Spaltungen in der Kultur, von denen die zwischen einer lokal verorteten Identitätsbildung und die einer kosmopolitischen Hyperkultur nur eine von zahlreichen Bruchlinien ist, erzeugen Konflikte, die zur Sprache gebracht werden müssten.
„Wo bleiben die Inhalte, wenn nur noch ideologische Fragen diskutiert werden?“ fragte Akademiemitglied Wolfgang Holler und verwies darauf, dass in den Medien vor allem emotionalisierte Auseinandersetzungen und ideologische Grabenkämpfe stattfinden würden.
Jörg Bochow erklärte: „Die Akademie ist der richtige Ort, um dem Diskurs eine Form zu geben und fern von ideologischen Debatten inhaltliche Diskussionen zu führen.“ Die Notwendigkeit einer solchen Verständigung sei umso dringender geboten angesichts des schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Gefährdungen künstlerischer Freiheit und der geringen Kraft des Europagedankens. Wolfgang Holler postulierte: „Wir sollten uns auf die Suche nach Gemeinschaft mit anderen machen. Wir müssen Europa weiter denken, uns öffnen und zugleich fragen, ob und wie Entgrenzung auch Verortung möglich macht. Dazu brauchen wir eine neue Aufklärung.“ Mit Blick auf die Kanonkritik sprach er sich dafür aus, nicht alles über Bord zu werfen, sondern das Vergangene als Teil der Zukunftsgestaltung zu betrachten.
Die Auseinandersetzung mit diesen Themen wird in der Akademie weitergeführt. Beiträge der Mitglieder sind unter der Rubrik Europa und unter der Rubrik Positionen im Programm auf der Homepage der Sächsischen Akademie der Künste nachzulesen.“
Weitere Beiträge zum Thema Debattenkultur:
- Interview mit Nicole Deitelhoff in der taz: „Demokratie ist Infragestellung!“
- „Der Aufstieg der Mundtotmacher“ – in der nzz vom 19.4.21
- Pianist Martin Stadtfeld über Debattenkultur, in: cicero, 18.4.21
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