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Ein Friedenskünstler

Die beste und auch wahrhaftigste Möglichkeit, die unwürdigen Diskussionen über Aufführungen und Aufführende russischer Provenienz zu beenden, ist die Musik selbst zu spielen und sprechen zu lassen: Musik aus Russland, von drei Komponisten, die einen Großteil des 20. Jahrhunderts mit allen Schrecken und persönlichen Unterdrückungen erlebt haben, erklang am Sonnabend im Konzerthaus Wien mit den Wiener Symphonikern. Wer Kultur als im guten Sinne sich bedingendes Miteinander und als permanentes In-Beziehung-Setzen erlebt, wird auch aus diesem Konzert, das wie ein erschütterndes Dokument naher und nächster russischer Kulturgeschichte wirkte, viel mitgenommen haben. Mit einem moralischen Aufrechnen der Kulturen und Nationen hingegen kommen wir nicht weiter, sondern sinken nur in die Abgründe, die diesen Komponisten selbst zugesetzt haben.

Denn wie verloren, suchend klingt die früh laut auffahrende Stimme der Komponistin Galina Ustwolskaja (1919-2006), wie tief empfunden das auf den 2. Weltkrieg zurückblickende Violinkonzert von Mieczyslaw Weinberg (1919-96). Beide Stücke sind im Jahr 1959 entstanden, wo die Wunden der Stalinzeit noch tief saßen und wahre politisch-kulturelle Entspannung noch nicht am Horizont aufschien. Und Dmitri Schostakowitschs letzte, fünfzehnte Sinfonie aus dem Jahr 1971 wirkt wie ein weit ausholender Essay eines großen Komponisten am Zenit seines Lebens: sie scheint mehr Fragen zu stellen als Antworten zu geben und doch entscheidet sie sich am Ende zaghaft im Ticken der Uhren und Läuten der Glöckchen für das Leben. Aber auch das ist nur eine mögliche Interpretation, die dieses vielschichtige Konzert anbot.

Zu Beginn sezierte Gastdirigent Ingo Metzmacher mit Galina Ustwolskajas Komposition die musikalische Sprache der Sowjetunion der ausgehenden 50er Jahre. Ustwolskajas „Symphonisches Poem Nr. 2“ wirkt wie eine anatomische Ausstellung von Musik. Parolen in Einmachgläsern, Quarten und Unisono konserviert und mit verzerrter Gesichtsmuskulatur studiert: das soll Musik sein? Ustwolskaja legt bloß, damit sie überhaupt anfangen kann, irgendwo in dieser von Hülsen und Propaganda geprägten die Wahrheit zu finden. Ein Prozess übrigens, der uns sofort in die Gegenwart katapultiert und daher in Metzmachers kaum schonender Interpretation erschüttert.  „Gidon Kremer zum 75. Geburtstag“ ist das Konzert überschrieben und ja, man macht dem Geiger wohl keine größere Freude mit dem gesamten Konzertprogramm, das in die Gegenwart zeigt, die Kremer immer, selbst wenn er einen Beethoven in Händen hielt, am meisten interessiert hat.

Gidon Kremer im Konzerthaus Wien am 23.04.2022

Ohnehin beschenkt er auch ohne offizielle Anlässe das Publikum, sobald er den Bogen auf die Saiten legt. Es dauert wenige Takte und dann ist er da, dieser geheimnisvolle, unbedingte Kremer-Ton, der die ganze Zeit zu sagen scheint: „hör mir zu!“. In Mieczyslaw Weinbergs großartigem Violinkonzert, ebenfalls 1959 entstanden, sind es die beiden ruhigen Mittelsätze, in denen Kremer zaubert und auch die Wiener Symphoniker zu atemlosen Hinhören zwingt. Kremers Brillanz des Tones kommt von innen, sie ist niemals aufgesetzt oder inszeniert, zumeist verschmilzt der Geiger auch körperlich mit seiner Geige zu einem einzigen Instrument. Was er äußert, dringt an Schichten in uns, von denen wir vielleicht nicht dachten, dass ein Violinkonzert uns da erreichen würde, doch Kremer besitzt diese wunderbare Fähigkeit, das universelle und humanistische in der Kunst nicht nur zu erfassen, sondern auch in einen Klang, in eine zeitliche Dimension umzusetzen.

Das veredelt Weinberg, dessen Partitur ohnehin kein Parlieren duldet, selbst in den Ecksätzen nicht, in der die Außenwelt das Sagen hat, der Kremer aber nicht erliegt – sein „Mitmachen“ in den militaristisch anmutenden Phrasen stellt diese auch gleich in Frage. Nach dieser Aufführung feiert das Publikum im Konzerthaus den lettischen Geiger, der als Zugabe das „Requiem“  des georgischen Komponisten Igor Loboda spielt. Das Stück aus dem Jahr 2014 ist ein Stück, gewidmet dem „ewigen Leiden der Ukraine“, und leise entwickelt man beim Zuhören den Gedanken, dass es vielleicht doch die Möglichkeit gibt, mit solchen Friedenskünstlern wie Kremer Kriege zu beenden – es muss doch Wertvolleres, Wichtigeres, Menschlicheres geben.

Die Wiener Symphoniker und Ingo Metzmacher nach der Aufführung der 15. Sinfonie A-Dur von Dmitri Schostakowitsch

Vielleicht liegen auch Dmitri Schostakowitschs 15. Sinfonie einige dieser Gedanken zugrunde, es war nicht Schostakowitschs letztes Werk, aber doch eines, das wie ein Monolith mit einem ganz klaren Auftrag entstanden sein muss: da räumt jemand auf und befragt noch ein letztes Mal die Notenlinien, die Instrumente nach einer Erkenntnis. Das Schlusswort will nicht kommen und ist doch da, in den Zitaten, Rückblicken, im freundlichen Ticken. Diese Sinfonie kann man schwerlich inszenieren und muss sie doch beim Schopf packen.

Metzmacher gelingt das mit wenig hinzugefügter Emphase, er läßt die Musik viel selbst sprechen und vertraut den Symphonikern, was nicht immer zu erwünschten Ergebnissen in der Balance führte, wie etwa in den Holzbläsern und im Schlagzeug im 1. Satz. Doch dann summierten sich die atemlos schöne Momente wie dem hervorragenden Cello-Solo oder dem Bläserchoral im 2. Satz zu einem Ganzen. Sehr spannend wurde es dann im 4. Satz, den Metzmacher auffällig still nahm und somit den kommenden Höhepunkt noch gewaltiger erschienen ließ. Ohne Fermate ins „niente“ endet bei Metzmacher das Stück, nicht wolkig-verklärt, sondern mit metallener, feiner Klarheit. Mit der kleinen Hoffnung, dass noch viel Musik da ist und zu entdecken ist, das Publikum wieder erschienen ist und sich weiterhin großartige Menschen um die Musik bemühen, konnte man nach diesem bewegenden Konzert gut nach Hause gehen.

Fotos (c) Markus Aubrecht, Quelle: Wiener Konzerthaus (2), Alexander Keuk (1)

 


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Veröffentlicht in Rezensionen Wien

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