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Bedeutende Wiederentdeckung

Die CD „Seel an Seele“ stellt den ukrainischen Komponisten Vasyl Barvinsky in den Mittelpunkt

Der geschwungene Schriftzug dürfte sicher schon Klassikliebhabern aufgefallen sein – zumindest als jede größere Stadt noch ein Geschäft zum Erwerb von Compact-Discs (kleine, runde Scheiben voller Musik) besaß. „auris subtilis“ heißt das Label aus Chemnitz, das seit gut 20 Jahren dafür sorgt, dass Musik aus Sachsen und sächsischer Ensembles und Solisten auf ebendieser Scheibe nicht nur die Reise in sächsische Wohnzimmer antritt, sondern via Vertrieb auch in die ganze Welt.

Hier hat sich auris subtilis gerade dem Label Rondeau angeschlossen, die wiederum in Leipzig ähnliche Ansprüche vertreten. Doch Revierstreitigkeiten gibt es da nicht, dafür ist das Musikland Sachsen vielfältig genug und natürlich haben die vergangenen zwei Jahre Rückzug auch viele Projektideen hervorgebracht. Wenn man nicht live musizieren konnte, was schlimm genug war, fand sich für das eine odere andere Ensemble wenigstens Zeit, ein lange gehegtes Lieblingsprojekt in einer Aufnahme zu realisieren.

Genau nach einer solchen Herzenssache klingt auch die neue Veröffentlichung bei auris subtilis, bei der sich die deutsch-ukrainische Altistin Roksolana Chraniuk und der Bariton Georg Streuber (der in Chemnitz und Dresden aufgewachsen ist) vor dem Mikrofon zusammengefunden haben, um besonderes Liedgut vorzustellen. Vor allem ging es ihnen um die (Wieder-) Entdeckung des ukrainischen Komponisten Vasyl Barvinsky – was nun durch die Kriegsereignisse zeitpolitische Koinzidenz erhielt, aber erst recht zum Nachdenken auffordert. Denn die Ukraine ist immer ein kulturell blühendes, eigenes Land gewesen, das zeigt sich exemplarisch an der Person Vasyl Barvinskys (1888-1963), der in Lemberg/Lviv und Prag studierte und dann lange Jahre die Lysenko-Hochschule in Lviv leitete.

1948 wurde er nach einer Denunziation verhaftet und verbrachte zehn Jahre im Gulag, den sowjetischen Arbeitslagern. Danach versuchte er seine Werke zu rekonstruieren, erst 1964 wurde er auch „rehabilitiert“ – eine Biografie, die einem mehrfach beim Lesen schlucken läßt, nicht nur, weil sich auch der Name Schostakowitsch aufdrängt, sondern weil sich vermutlich dieser Kulturmord gerade wiederholt. Insofern ist die CD ein Glücksfall der Dokumentation, denn ohnehin sind viele ukrainische Komponisten des 20. Jahrhunderts aufgrund der politischen Wirrnisse nicht annähernd in eine Bekanntheit geraten, wie es beispielsweise durch die Öffnung des Baltikums oder auch durch Übersiedlungsentscheidungen russischer Künstler, wie etwa Alfred Schnittke oder Sofia Gubaidulina möglich war. Vasyl Barvinskys Schaffen anhand der sechs ausgewählten Lieder auf der CD zu beurteilen, ist kaum möglich.

Roksolana Chraniuk, Mai Yakushiji, Georg Streuber (Foto (c) Ron Rosenberg)

Doch zeigt die Handschrift der Lieder eben sowohl eine Nähe zum ebenfalls eingespielten Richard Strauss, aber auch Namen wie Zemlinsky, Wolf oder Schoeck drängen sich auf und machen die Entdeckung um so spannender, denn es ist der Grenzbereich zwischen Spätromantik und einer Moderne, die gerade auch im Osten individuell spannende Kompositionsansätze hervorgebracht hat. Barvinsky lehnt sich an einen Impressionismus an, der vielleicht noch Szymanowski oder Skrjabin am nächsten steht, leugnet aber auch nie eine im Sinne Schuberts gewachsene klassische Liedtradition. Chraniuk und Streuber sind beide seit vielen Jahren solistisch in Lied und Oratorium tätig und geben auch durch ihre Erfahrung als Mitglieder im Rundfunkchor Berlin eine unauffällige Finesse in Wort- und Klangformung der Lieder bei. Diese Souveränität erschließt dann beim Hören einen wunderbaren Fluss.

Die Wahl der Wagnerschen Wesendoncklieder in der Alt-Fassung erzeugen eine weitere schattig-melancholische Seite der CD. Von Georg Streuber wird die Aufnahme stimmungsvoll mit Strauss‘ „Die Nacht“ eingeleitet, so dass man bei Mai Yakushijis vorsichtigen Klavierklängen in der Grunewaldkirche Berlin kurz aufhorcht und überlegt, ob die CD bereits angefangen hat. Sie ist auch ansonsten nicht nur aufmerksame Begleiterin, sondern gleichwertige Partnerin in diesen Liedentdeckungen. Das aufwändig gestaltete Booklet enthält neben den Liedtexten auch Bilder aus Lviv – die Hoffnung auf bessere und friedensreiche Zeiten spricht bereits aus den von Barvinsky vertonten ukrainischen Texten. Eine besondere, wichtige Lied-CD, die uns näher an die ukrainische Kultur und damit an ein hoffentlich noch nicht zerstörtes Gut heranbringt.

  • Seel an Seele, Lieder von Richard Wagner, Vasyl Barvinsky und Richard Strauss
    Roksolana Chraniuk, Alt / Georg Streuber, Bariton / Mai Yakushiji, Klavier
    Label auris subtilis, erschienen am 18. März 2022

 


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