Manchmal verschwinden abgesagte Konzerte ja sang- und klanglos im Nirwana des Kalenders. Gottlob hatten die Sopranistin Anna Prohaska und die Geigerin Isabelle Faust soviel Herzblut in ihr Projekt mit den Kafka-Fragmenten des ungarischen Komponisten György Kurtág gesteckt, dass es gar keine Frage war, das Konzert nachzuholen.
Und so kamen die Zuhörer am Donnerstagabend im Gläsernen Saal des Musikvereins in den Genuss eines intensiven Epilogs des Festivals Wien Modern, zu welchem die Aufführung hätte im November schon stattfinden sollen. Im Musikverein ist Isabelle Faust gerade als Porträt-Künstlerin der aktuellen Saison mit mehreren Konzerten präsent. Anna Prohaska wiederum braucht man in Wien nicht vorzustellen und ihre Konzerte sind ebenfalls immer Juwelen im Konzertalltag, sei es durch sorgsam ausgewähltes Repertoire oder ganze Themenliederabende – bei Anna Prohaska hat man auch wirklich das Gefühl, die Lieder begleiten sie eine ganze Weile wie Gefährten. Das dürfte im Fall von Kurtágs von Adrienne Csengery und Andràs Keller bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik 1987 uraufgeführten Zyklus ebenso der Fall sein, handelt es sich doch hier allein schon um 40 Lieder, die als Ganzes aufzuführen eine besondere Herausforderung darstellt.
Beide Künstlerinnen gaben im Gespräch nach dem Konzert an, dass sie schon früher getrennt voneinander mit dem Zyklus in Berührung gekommen waren. Die jetzigen Gesamtaufführungen sind Folge einer CD-Aufnahme, die die beiden in die Lockdowns des Jahres 2020 vorgezogen hatten und auf merkwürdige Weise korrespondierten Kafka und Kurtág mit der Stille, aber auch den vielfältigen Absurditäten der Pandemiezeit. Schon aus dem Grund ist auch die CD absolut hörenswert, für Zuhörer des Konzerts ohnehin: wie Isabelle Faust nach dem Konzert gesteht, hätte sie am liebsten das Ganze heute noch fünf Mal gespielt, und gab damit ihrem Verstehen-Wollen Ausdruck, das absolut künstlerisch gemeint ist. Und nicht anders hören wir ja auch Beethoven und all die anderen: als Momentausriss, als Zeitäußerung, als musikalische Gegenwart des Tönens.
Vielleicht ist es auch der Sinn dieses famosen Liederzyklus, uns diese Befindlichkeiten, auch: Endlichkeiten wieder bewusst zu machen. Gleichzeitig hat Kurtág aber ein Füllhorn emotionaler Ausdruckskraft und vor allem Gestik komponiert, das eigentlich dem oft kolportierten Bild des Komponisten György Kurtág (*1926) als Minimalistiker, als Asketen zuwiderläuft – und dennoch etwas Wahrheit enthält.
Dem Zyklus selbst näherten sich die beiden mit der gebotenen Ehrfurcht vor über einer Stunde intimster Kammermusik, aber vor allem auch mit ihrer geballten künstlerischen Kraft, die beide für sich und in Potenz miteinander besitzen. Das führte zu ungeahnten Schwierigkeiten beim Zuhören, da oft beide Stimmen gleichberechtigt singen (ja, und explizit auch die Geige!) und sich daher das Ohr kaum entscheiden mochte, welcher atemberaubenden Linie man gerade folgen wollte.
Anna Prohaskas quasi Echtzeit-Einfühlen in die jeweiligen Miniaturen faszinierte, und man konnte nachvollziehen, dass sich in ihrer Stimme und ihrem Gestalten ja gewissermaßen das Leben (die Belebung) von Kurtágs Noten vollzogen. Stark wirkten da ihre plötzlichen Ausbrüche („Nichts dergleichen!“) ebenso wie völlig nach innen gewendete feine Lieder wie die Schumann-Hommage „Träumend hing die Blume“ oder die Liebes-Kontemplation „Zu spät“ am Beginn des 4. Teils. In den größeren Szenen wie die in der „Elektrischen“ verbarg sich manchmal sogar ein kleines Violinkonzert. Die Nachspiele von Isabelle Faust atmeten eine in ihrem transzendenten Wegblenden, Nachsinnen und Offenhalten einzigartige Atmosphäre, und gerade auch das Ineinanderkriechen mit Prohaskas auch einmal „geigend“ geführter Singstimme, das Führen und Nachgeben war von besonderem Reiz, bis hin zum Schlusslied, wo beide als kriechendes Schlangenpaar zunächst den Untergrund und am Ende den Äther untersuchen.
Und trotz der Fülle der Lieder wird einem ja nie langweilig (nächstes Vorurteil gerissen, nämlich das des Melancholikers oder gar Misanthropen Kafka): die Paarung zwischen Komponist und Dichter bringt ja allein schon derartig viel musikalische Inspiration, dass die Interpretation durch zwei so herausragende Musikerinnen noch einmal neue Ebenen öffnet – etwa die des feinsinnigen Humors, des Couplets oder schlicht einer Form, der man begeistert folgt wie etwa in dem einen eigenen Teil markierenden „wahren Weg“, der entlang eines knapp über dem Boden gespannten Seils führt.
Allein die Spannung vor einem – nicht vollzogenen – Stolpern ist so ein markantes, feines Gefühl, das immer wieder in den Liedern neu gefunden, ja, erfunden wird. Prohaska und Faust finden gleichsam eine Sprache für die Sprache. Kurtág hilft nur manchmal durch eine eindeutige Richtungsanzeige, eine unwidersprechbare Geste, manchmal verrätselt er auch oder führt – so Isabelle Faust im Nachgespräch zu einer Ratlosigkeit, die aber ebenso ausgedrückt werden muss, denn sie ist ein ebenso weltliches, präsentes Gefühl, wenn wir uns unsere Außenwelt derzeit anschauen.
Insofern geriet die Aufführung zu einem faszinierenden Zeitdokument, „kafkaesk“ war sie vielleicht explizit zur Zeit der Aufnahme des Werkes, jetzt ist sie ein in unzähligen Geigen- und Stimmfarben schillernder Beweis dafür, was Kunst alles sein kann und wie immens wichtig das Aussprechen auch unsagbarer Dinge auf diese Weise gelingen kann.
Foto (c) CD-Cover Kafka-Fragmente
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