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Neu im Kino: „Tár“

Eigentlich wollte ich ja gar nichts schreiben diesmal, weil ich – und das ist selten genug – gerne einmal Kultur ohne geschriebene Reflektion genieße, aber dieser Film ist so außergewöhnlich und auch in vielerlei Hinsicht sehenswert, dass ich zumindest die Empfehlung aussprechen muss und einige Zeilen schreibe, da von meinen Leser:innen einige dem Filmgenre nicht abgeneigt sind und ich als Rezensent schon öfters einen cineastischen Ausflug gewagt habe.

Ich habe am 1.3. die österreichische Filmpremiere von „Tár“ im Filmcasino Wien gesehen, dort war auch die Editorin Monika Willi zu Gast. Einen Tag später lief der Film auch in Dresden und bundesweit an.

„Tár“ hat natürlich in meinem Dresdner Netzwerk schon vor längerer Zeit für Aufsehen gesorgt, als nämlich die Intendantin der Dresdner Philharmonie „literally“ einen Anruf aus Hollywood bekam. Das war mitten in der Pandemie, die Orchester waren erst in einer apathischen Stille, dann aber formten sich kreative Alternativen. Da kam eine Anfrage zum Dreh eigentlich ziemlich passend.

„Tár“ ist ein Film in und über Musik, der ganz von seiner Protagonistin dominiert ist. Es ist die fiktive Geschichte der Dirigentin Lydia Tár, die bis zur Chefin der Berliner Philharmoniker aufsteigt und dann über Intrigen und Machtmissbrauch im engsten Umfeld scheitert. Das ist eigentlich einfach erzählbar, wird aber durch die vielen Themen und emotionalen Schichten komplex und auch in den Stimmungen nuancenreich.

Dass „Tár“ nun gleich sechsfach oscarnominiert ist, liegt sicher an der nachvollziehbaren Extraklasse in den nominierten Genres, und die herausragende Cate Blanchett dürfte für ihr Spiel sicher einen Oscar bekommen. Doch auch das Orchester, die hier nicht nur hervorragend musizierende, sondern nun auch schauspielernde Dresdner Philharmonie trägt ja mit zur Exzellenz des Filmes bei, und tatsächlich kommt die unterkühlt-autoritäre Beziehung zwischen Orchester und Dirigentin im Film hervorragend heraus. Die Dresdner Philharmonie veröffentlichte auch eine „Behind the scenes“-Seite und ein Video, das bei den Dreharbeiten entstand:

Gelungen ist auch wirklich die feine schauspielerische Führung des Orchesters, wo es sogar zwei Sprechrollen gab, und ebenso freut man sich über durchaus authentische Dirigierszenen von Blanchett und der am Konzertmeisterpult geigenden Nina Hoss, die Társ Partnerin mimt. Auch sie spielt hervorragend wie nahezu der ganze Cast dieses Films. Der sich immer mehr zur Isolation und Ausweglosigkeit verdichtende Karriereweg von Lydia Tár wird auch von Regie, Kamera und Schnitt beeindruckend eingefangen – ein lustiger Musikfilm ist das auf gar keinen Fall, eher gibt es noch Metaebenen, die fast in Richtung Psychothriller weisen, so etwa die Hörsensibilität von Tár, die auch die Filmkomponistin  Hildur Guðnadóttir herausfordert und auch akustisch sensible Zuschauer perfekt irritiert, wenn ein Tropfen, Klicken oder ein Schrei im Wald erst einmal analysiert werden muss.

Was Regisseur Todd Field wohl perfekt zeigen wollte, ist der Wissensbackground in der Klassikwelt, den er sich selbst in nur dreimonatiger Vorarbeit zum Film offenbar wie ein Besessener angeeignet hat. Auch Nicht-aus-der-Musik-stammende-Filmguckende sehen hier wie ein Vorspiel oder eine Probe abläuft, wobei der aus-der-Musik-stammende-Filmguckende die Hoffnung hat, dass niemand genau diese Szenen für bare Münze nimmt. Aber es ist zumindest viel Wahres darin, und natürlich werden in manchen Backstagegesprächen oder Lunchterminen auch die Messer und Waffen geschärft.

Da gibt es den Dirigentenkollegen, den älteren Vorgänger von Tár und natürlich eine Managerin, die devot mit dem Glas Wasser im richtigen Moment zur Seite steht, der aber die Nähe zur „Maestra“ (solches schon in der Rhetorik zweifelhaftes Autoritätsgehabe ist leider tatsächlich unhinterfragte Praxis bei vielen Orchestern) zum Verhängnis wird. Persönliches mischt sich mit Beruflichem und als dann noch ein Mob auftaucht, der Társ Mobbing anprangert, wird der Film seltsam aktuell. Cancel culture, die hier ausgerechnet Johann Sebastian Bach trifft, und wokeness könnten einen eigenen Strang bilden, und nachdem ich im Filmgespräch im Filmcasino, wo die Editorin Monika Willi zu Gast war, hörte, dass – was wohl ein natürlicher Vorgang ist – etliche gefilmte Szenen wieder gekürzt wurden, hätte man aus diesem Film durchaus auch eine erfolgreiche Serie drehen können, so eine Idee meiner Begleiterin an diesem Abend. So hätte man viele Charaktere im Film mit ihren eigenen Geschichten noch mehr entwickeln können.

Am Ende hat man einigermaßen starken Tobak zu kauen, und besonders hell endet der Film nicht. Etwas ratlos ließ mich der Anfang zurück, der nach einem vollen Cast-Vorspann erst einmal ein fiktives Interview mit Tár und ein erstes, langes Lunchgespräch nutzt, um Person und Szene einzuführen. Da sucht der Film noch etwas nach dem Gaspedal, nimmt aber spätestens mit der ersten Orchesterprobe an Fahrt auf.

* weitere Bilder von der Österreich-Premiere von „Tár“ im Filmcasino Wien (1.3.23)
* „Tár“-Filmseite bei universal pictures
* Bericht beim mdr über „Tár“ und die Dreharbeiten in Dresden
* Blanchett bei der Berlinale 2023, Video der Süddeutschen Zeitung
* eine Auswahl von Kritiken im Zitat bei wikipedia

 

 


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Veröffentlicht in Features Rezensionen Wien

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