Herbstzeit in Wien heißt Wien Modern. Die 36. Ausgabe des Festivals für zeitgenössische Musik befindet sich in den Startlöchern. Die Eröffnung findet am 31. Oktober 2023 statt und verspricht spektakulär zu werden.
Bei der Pressekonferenz im Wiener Musikverein am Mittwoch betonte der Direktor des Hauses Stephan Pauly den wertvollen künstlerischen Austausch und das Kuratieren gemeinsamer Projekte: „Unser künstlerisches Ziel ist es Tradition weiterzuführen, aber auch Inhalten der Gegenwart einen zentralen Platz einzuräumen.“ In der Reihe „Musikverein Perspektiven“ wird nach Georg Baselitz im letzten Jahr erneut ein international arrivierter Künstler als Musikmensch und Diskutant eingeladen, der mit Wien Modern im Musikverein eine ganze Woche auf die Reise gehen wird – in diesem Jahr ist es der Schweizer Architekt Peter Zumthor.
Der künstlerische Leiter von Wien Modern Bernhard Günther stellte das Festivalthema 2023 vor: „GO – Bewegung im Raum“ ist als ein Freispielen nach den Pandemiejahren gedacht und läßt sich als Aufforderung, aber auch in viele Richtungen als Ausdruck von Dynamik und Entwicklung verstehen. Dass ein „Einrostungsprozess der Klassik“ im Gange sei, sei kein neues Statement (siehe auch die neue Publikation von Axel Brüggemann). Günther erwähnte als Beispiel die Berliner Philharmonie, die an dem Ort einer früheren Rollschuhbahn gebaut wurde, ein durchaus ‚bewegter Untergrund‘ also. Ob man Musik in Stille und Regungslosigkeit im Sitzen genießen müsse, sei mit Blick auf die heutige Gesellschaft stärker als früher dahingestellt. Das aktuelle Wien Modern-Bild zeigt einen Astronauten, der das Gehen auf dem Mond übt – das könnte durchaus als zwinkernder Blick zurück in die experimentellen 60er Jahre verstanden werden, aber sicher auch als Aufforderung, tatsächlich körperliche (Musik-) Erfahrung erneut zu exerzieren und zu entdecken.
Das alles beginnt für das Publikum mit einem „walk in the park“ am Eröffnungstag – der Wiener Stadtpark wird mit einer Fanfare von Maria Gstättner musikalisch durchmessen. Im Konzerthaus angelangt, kann das Publikum zur Uraufführung von Peter Jakober phasenverschobene Klänge von 60 Streichern aus drei Sälen mit geöffneten Türen in Ohrenschein nehmen. „Räume werden oft ausgeblendet, aber sie können was“, so Günther, und natürlich sei auch die Einladung des Architekten Peter Zumthor in diesem Kontext spannend.
Die ersten Tage von Wien Modern wie auch ein Mini-Marathon von vier aufwändigen (z. T. Raum-) Konzerten im Musikverein seien „utopische Projekte“ betonte Günther, deren Einmaligkeit nicht nur im organisatorischen Aufwand liege, sondern ganz sicher auch im einmaligen klanglichen Ergebnis und Erlebnis. Wer zu Georg Friedrich Haas „11.000 Saiten“ am zweiten Festivaltag nicht ins Konzerthaus käme, seie „selbst schuld“, so Günther. Und tatsächlich klingt das schon in der rein verbalen Vorstellung unvorstellbar und ja, auch wahnsinnig: 50 im Hundertsteltonabstand gestimmte Klaviere nehmen den großen Saal im Konzerthaus ein, dazu spielen die Wiener Symphoniker, das Publikum wandelt im Klang. Eine Aufnahme dieses Werkes sei ziemlich unmöglich, es wäre in etwa so, als würde man einem gewaltigen Naturereignis bloß im Fernsehen zuschauen. Wer dennoch wissen will, worauf er sich einläßt, kann ja das folgende Video anklicken und nach zwei, drei Minuten wieder abschalten, um dem Live-Erlebnis nicht vorzugreifen:
Bernhard Günther gab im Folgenden einen Überblick über weitere Festivalhöhepunkte und Raumerlebnisse. Kontrastreich geht es mit Mark Andre am 3. November im Stephansdom weiter. Diesem „atmenden Moment“ folgt als eher wilde Intervention im Öffentlichen (Untergrund-) Raum am 4. und 5. November Hannes Seidls Passagenperformance „21 Songs“.
Peter Conradin Zumthor, der Sohn des Architekten Peter Zumthor, wird ebenfalls bei Wien Modern vertreten sein. Er ist Schlagzeuger, Komponist und Konzeptkünstler und rückt an vier Tagen (22.-24.11.) bei freiem Eintritt die Glocken im Stephansdom in den Fokus des Geschehens. Dann werden sie einmal ganz anders erklingen und schärfen das Hinhören.
In der Kooperation mit dem Musikverein wird die Peter-Zumthor-Woche mit vier aufeinanderfolgenden Konzerten an drei Tagen (15.-17. November) samt Begleitveranstaltungen stehen und dabei den Musikverein klanglich auf den Kopf stellen, denn unterschiedlicher können die Darbietungen mit dem Abbado-Konzert mit dem ORF Symphonieorchester, einem Recital von Pierre-Laurent Aimard sowie Konzerten mit Michael Jarrell und Rebecca Saunders nicht sein. Günther meinte, dort entstehe tatsächlich „etwas Radikales, das ist ‚wie ein Haus von Zumthor bauen'“.
Die Komponistin Judith Unterpertinger war ebenfalls mit am Podium der Programmvorstellung. Ihre Uraufführung wird am 19. November in Klosterneuburg stattfinden – der Kreuzgang des Klosters bildet Rahmen und Raum für ihre „Zeitenverwesung“, bei der das Publikum ebenfalls wieder in Bewegung sein darf. Auf die eher niedrigen Temperaturen am Konzertort wurde bereits jetzt hingewiesen, Unterpertinger ergänzte, „leise Jacken“ anzuziehen…
Der Erste Bank Kompositionspreis geht in diesem Jahr an das Duo Nimikry, das sich am 28. November im Konzert vorstellen wird und Erkundungen in digitaler Virtuosität unternimmt. Denn eine paganinische Versiertheit muss ja nicht im Saitenspiel aufhören, sondern kann sich auf Interfaces und Sampler übertragen und zu neuer kompositorischer Ästhetik beitragen.
Beschlossen wird Wien Modern in diesem Jahr am 2. Dezember mit Terry Rileys berühmten Stück „In C“ – allerdings diesmal dargeboten von 20 Dudelsäcken, die das Semperdepot der Akademie der bildenden Künste Wien kirchenartig füllen werden, natürlich auch wieder „in Bewegung“. Der Jahrgang verspricht eine Menge Abwechslung – im beeindruckenden Zahlensalat vernimmt man „57 Produktionen in 91 Konzerten, dazu 20 Workshops, Gespräche und sonstige Rahmenveranstaltungen mit 44 Komponistinnen und 86 Komponisten an 36 Spielstätten in 14 Wiener Bezirken“. Und alles was hier nicht aufgeführt ist, kann im veröffentlichten Programm nachgelesen werden. Let’s — GO.
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