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Bach mit dem Sauerstoff des 21. Jahrhunderts

Sir John Eliot Gardiner musiziert mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden

Die Bandbreite seiner Aufführungen und Einspielungen ist enorm, in der Alten Musik gilt er als Schlüsselfigur und hat viele Werke einem breiten Publikum (wieder) zugänglich gemacht. Mit dem von ihm gegründeten und geleiteten Monteverdi Choir gastiert Sir John Eliot Gardiner am Sonnabend in der Frauenkirche und gestaltet mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden ein besonders auf die Dresdner Musikgeschichte zugeschnittenes Programm. Alexander Keuk sprach mit ihm über Bach, Zelenka und musikalische Interpretation.

Sir John Eliot Gardiner, Sie gastierten bereits mehrfach in Dresden…
Gardiner: Ja, ich war bereits 1983 hier bei der Staatskapelle, jetzt ist es ist mein erstes Konzert in der Frauenkirche, darauf freue ich mich sehr – wir musizieren Bach, die Urfassung der H-Moll-Messe, die für Dresden geschrieben wurde. Dazu das Miserere c-Moll von Zelenka und die Harmonie-Messe von Haydn, seine wohl schönste Messe.
Was macht die besondere Schönheit dieses letzten vollendeten Werkes von Joseph Haydn aus?
Gardiner: Es liegt besonders an der Präsenz der „Harmonie“, also den Bläsern. Die „Nelsonmesse“ etwa hat nur Trompete und Pauken und keine Holzbläser – hier ist die ganze Harmonie involviert. Außerdem ist das Benedictus eine Überraschung. Es ist ein „Molto Allegro“, normalerweise ist ein Benedictus ein kontemplatives Stück, hier ist es das Gegenteil, schnell und fast wie ein furioso-Finale einer Mozart-Oper komponiert.
Haydn klagte in seinen letzten Jahren oft, er sei erschöpft, aber die Wahrheit ist, wir haben mit den Messen den Gipfel der opernhaften geistlichen Musik auf der Grenze zwischen Wiener Klassik und Romantik.
Zurück zu Johann Sebastian Bach – der Leipziger Thomaskantor hätte gerne die Hofkapellmeisterstelle in Dresden erhalten, aus welchem Grund?
Gardiner: Dresden war die Stadt von August dem Starken, und das verändert natürlich alles. Leipzig war eine Messestadt mit Universität, kommerziell, intellektuell, aber im Vergleich zu Dresden war es durchaus auch provinziell.Alles passierte hier in Dresden: der Hof, die Hofkapelle mit einer fantastischen Ausstrahlung, sie waren versiert in der französischen und italienischen Richtung, fabelhafte Musiker. Für Bach waren in Leipzig die Arbeitsbedingungen anders, in Dresden war das Ansehen größer, die Musiker waren besser bezahlt. Man musste die Funktionen nicht verdoppeln, in Leipzig musste ein Geiger ja notfalls auch singen oder Trompete blasen. Bach musste immer improvisieren und Schüler dazuholen um sein komplettes Ensemble zusammenzubekommen. Er wollte Kapellmeister sein und war im Grunde Kantor. Es gab dann die Möglichkeit in Dresden einen neuen Kapellmeister zu installieren und Bach schrieb die Messe mit einer Widmung an August. Es war eine Privatwerbung, und seine Bewerbung sagte ganz klar: „Ich kann auch katholische Musik schreiben, ich weiß genau, was in Dresden passiert und was Lotti, Caldara, Zelenka schufen. Ich bin der Mann der Situation“. Er kannte Dresden sehr genau, war auch 1717 schon in Dresden bei dem Wettbewerb des berühmten Cembalisten Louis Marchand. 1733 bekam Wilhelm Friedemann ja den Job in der Sophienkirche und Johann Sebastian hat alles gemacht für ihn, sogar „in die Tasche komponiert“. Doch er bekam die Stelle nicht, sondern nur drei Jahre später einen honorigen Titel, und dann kam ja Hasse als Opernchef, und Bach ist in Leipzig geblieben. Er war dort weiterhin kreativ und schöpferisch, aber sicher auch ein bißchen eifersüchtig, gar nicht auf die künstlerischen Entwicklungen in Dresden, aber sicherlich auf die Konditionen.
Welche Rolle spielte Zelenka?
Gardiner: Zelenka war zu der Zeit schon in Dresden, er war Kontrabassist hier und hat sehr viel Kirchenmusik komponiert. Es gibt viele Parallelen zwischen Bach und Zelenka, die beiden haben sich auch beeinflusst. Bach war ja auch nicht nur mit Zelenka befreundet sondern auch mit Hasse und seiner Frau, der Sängerin Faustina Bordoni.
Da gab es keinen Neid, oder gar Konkurrenz?
Gardiner: Nein. Ich finde, die Kirchenmusik von Hasse ist im Vergleich zu Bach etwas formularisch. Bach schuf in den Kantaten Meisterwerk nach Meisterwerk, jeden Sonntag, das ist Hasse nicht gelungen.
Hatte er die ganzen Werke im Kopf?
Gardiner: Nein, aber er konnte die verschiedenen Möglichkeiten etwa eines Fugenthemas und was daraus entstehen könnte, sofort gesehen, das hat er phänomenal verstanden.
Die H-Moll-Messe ist ja auch nicht als Gesamtplan entstanden, das Sanctus entstand viel früher…
Gardiner: …und andere Sätze sind sogar Parodiesätze.
Dennoch hat man diesen grandiosen Eindruck, dass es „so und nicht anders“ sein soll, wenn man die gesamte Form betrachtet.
Gardiner: Ich glaube nicht, dass er 1733 schon die ganze Messe konzipiert hat. Später, als er die restlichen Sätze dazugefügt hat, hat er in den ersten beiden Sätzen auch noch Änderungen vorgenommen, es gab zum Beispiel in der Urfassung keinen Kontrabass.
Das explizite „Bewerbungsschreiben“ für Dresden, woran kann man das direkt in der Komposition merken?
Gardiner: Nehmen Sie das „Laudamus Te“, das ist für Faustina geschrieben, wenn sie sich etwa die Verzierungen der Gesangsstimme anschauen und auch die Instrumentallinien sind ganz sicher für die Dresdner Spezialisten wie den Konzertmeister Pisendel entstanden.
Gab es denn eine Idealform für eine Dresdner Messe?
Gardiner: Die typische Dresdner Messe ist von Lotti und Caldara begründet, bei Bach ist eine ungleich größere Dichte und ein großer Kontrapunkt vorhanden, aber vor allem die Form ist sehr gut kalkuliert gewesen.
Im Gegensatz dazu steht die Musik von Zelenka mit vielen überraschenden Elementen…
Gardiner: Vor allem seine Instrumentalmusik, das ist in Harmonik und Struktur oft sehr verrückte Musik. Sie ist auf jeden Fall böhmischer Natur.
Das Miserere c-Moll entstand 1738, also sehr nah an der H-Moll-Messe.
Gardiner: Der Akzent liegt im Konzert auf Bach, daher habe ich nicht noch eine Messe von Zelenka ins Programm genommen. Es ist schon ein Geschenk, das Bach-Werk in der Frauenkirche aufführen zu dürfen. Als Engländer bin ich wohl besonders sensibel auch für die Geschichte dieses Bauwerks, und meine Liebe zu Bach zählt da zu allererst, dieses Stück wollte ich dort machen. Und dann kam die Idee, etwas Passendes zu ergänzen, das war Zelenka, und als Kontrast die Harmoniemesse, ebenfalls ein Gipfelwerk.
Sie bringen den von Ihnen gegründeten Monteverdi-Choir mit zu diesem Konzert und musizieren mit der Staatskapelle, die vor allem durch Musik von Wagner und Strauss glänzt. Nun spielen Sie Bach und Zelenka mit ihnen…
Gardiner: Das ist meine Herausforderung…
Haben Sie bestimmte Vorgaben im Voraus gemacht, was die Aufführungspraxis oder Besetzung des Orchesters angeht?
Gardiner: Nein, ich bin ein praktisch veranlagter Dirigent – ich höre zu, was gespielt wird und wir werden sehen, wie wir zusammenkommen. Nicht didaktisch, pädagogisch – ich bin kein Fanatiker und ich schätze das Orchester sehr. Der Zweck der Zusammenarbeit ist ja gerade die musikalische Begegnung, sonst hätte ich auch mein eigenes Orchester mitbringen können. Eigentlich ist das ja vergrößerte Kammermusik, man muss den Musikern einzeln respektvoll und mit Freude zuhören und sie zu dieser Musik einladen. So kann man zusammen musizieren ohne hierarchischen Dogmatismus.
Es gibt also kein „richtig“ und „falsch“ in der alten Musik?
Gardiner: Das ist Quatsch. Das sind die Dogmatiker. Es gibt kein historisches „So ist es“. Die Ansichten haben sich natürlich in den Jahren gewandelt. Ich habe einen Enthusiasmus für originalen Klang und historische Aufführungspraxis, aber für meinen Geschmack ist es eher ein Versuch, die Klangwelt eines Komponisten zu etablieren und zu rekonstruieren, soweit es möglich ist. Aber dann muss man sagen, wir sind Leute des 21. Jahrhunderts und die Musik muss zu uns klingen und sprechen und mit dem Sauerstoff des 21. Jahrhunderts geatmet sein, dann wird es erst richtig lebendig.
Sie haben sehr viele Werke aufgeführt, auch wiederentdeckt. Verändert sich in so einem langen Zeitraum die Ansicht auf ein Werk, auf einen Komponisten?
Gardiner: Ich glaube, meine Erfahrung im Bachjahr 2000, alle Kantaten in einem Jahr aufzuführen, hat sehr viel verändert, z.B. im Hinblick auf die Bachschen Passionen – die Passionen sind keine Einzelwerke, sondern eigentlich große Kantaten, sie waren das Gipfelwerk, der Höhepunkt eines Jahrgangs, aber sie sind nicht unterscheidbar von den Kantaten, denn sie haben die gleiche musikalisch-theologische Absicht, es ist Drama Sacra, und zwar wirklich Drama und wirklich Sacra. Das sind auch die Kantaten in kleiner Form. Die Passionen haben die unglaubliche narrative Intensität, das ist so rührend für alle Menschen, egal ob gläubig oder nicht, die Geschichte hat so einen starken humanistischen Aspekt, man ist da sofort involviert, das ist eine Oper für den Intellekt, für die Seele.
Sie haben durch das Kantatenprojekt also auch neue Erkenntnisse für das Musizieren gewonnen?
Gardiner: Natürlich verändert man sich ständig im Laufe der Jahre, aber das Bachprojekt 2000 war so markierend, stark und lebenswechselnd, dass das Musizieren davor ein anderes war als danach – es mag banal klingen, aber wenn ich nun Musik dirigiere, bin ich regelrecht begeistert und sehr dankbar, man hat diese fantastische zauberhafte Welt verschiedener Klänge, damit etwas zu schaffen, zu arbeiten – das Bewusstsein ist anders geworden, ja.
Wie schätzen Sie die heutige Situation des Konzertlebens ein, insbesondere der jüngeren Generation?
Gardiner: Zunächst ist es sehr vielfältig heutzutage, es gibt viel mehr musikalische Entdeckungen. Und ich bin immer wieder überrascht, wieviele junge begabte Musiker es gibt und wie engagiert diese sind. Die Unterstützung der Kultur ist oft schwierig ist, die Bedingungen sind hart und es gibt natürlich Probleme in der musikalischen Bildung, oder nehmen Sie die Hausmusik, die fast völlig verschwunden sind. Ich arbeite u.a. mit dem National Youth Orchestra of Great Britain zusammen, und ich bin doch positiv von der Ernsthaftigkeit der jungen Leute und der Kreativität überrascht. Da bin ich sehr optimistisch. Unsere Erfahrungen und die Liebe zur Musik, die müssen wir weitergeben.

—-
23.06.2007, 20.00 Uhr, Frauenkirche Dresden
Monteverdi Choir und Solisten,
Sächsische Staatskapelle Dresden
Ltg. Sir John Eliot Gardiner

Jan Dismas Zelenka
«Miserere» c-Moll
Johann Sebastian Bach
Missa h-Moll BWV 232I
Joseph Haydn
Messe B-Dur HOB. XXII:14
(«Harmoniemesse»)

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