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Balancen

Die Sächsische Staatskapelle installiert den „Capell-Compositeur“

Hoppla, möchte man ausrufen, die Staatskapelle traut sich was. Dabei war der Schritt, neue Musik selbstverständlich in die Konzertprogramme einzubeziehen in den letzten Jahrzehnten nicht immer mit Überzeugung vollzogen. Doch mit dem neuen Chefdirigenten Fabio Luisi hält nun der „Capell-Compositeur“ Einzug in den Semperbau und damit die überfällige, intensive Auseinandersetzung mit der Musik der Gegenwart. Was steckt
hinter diesem ehrenwerten Titel, den übrigens schon Johann Sebastian Bach bei der einstigen Hofkapelle innehatte? Ein namhafter Komponist der jüngeren Generation konzipiert für die laufende Saison ein oder mehrere Stücke exklusiv für das Orchester. Anders als bei in regulären Konzerten manchmal schamhaft versteckten Piècen steht aber in diesem Projekt der
Komponist im Mittelpunkt des Interesses. So werden bei der Staatskapelle auch gleich Nägel mit Köpfen gemacht – die für die erste Saison ausgewählte „Capell-Componistin“ Isabel Mundry ist in gleich mehreren Konzerten vertreten, und ihr neuestes Werk „Balancen“ für Orchester wird überdies im Antrittskonzert von Fabio Luisi uraufgeführt – als erstes Stück im Programm, als Auftakt zur neuen Saison. Neben Mundry geben sich in den ersten beiden Konzerten auch noch Alban Berg und Edgar Varèse im Kontrast zu Strauss und Beethoven die Klinke in die Hand: Tradition meets Gegenwart. Man mag dies gerne als Zeichen des Aufbruchs begreifen, spannend werden die Begegnungen mit der 1963 geborenen Isabel Mundry allemal. Die Komponistin studierte in Frankfurt und Berlin, lebte eine Zeitlang freischaffend und lehrt nunmehr als Professorin an der Musikhochschule in Zürich. Zahlreiche Preise, Einladungen (Lucerne Festival) und Aufführungen mit renommierten Klangkörpern wie den Berliner Philharmonikern oder dem Chicago Symphony Orchestra dokumentieren ihre künstlerische Biografie; ihre 2005 uraufgeführte Oper „Ein Atemzug – die Odyssee“ (Deutsche Oper Berlin) wurde gar von der Fachzeitschrift „Opernwelt“ zur „Uraufführung des Jahres“ gewählt. Essentiell erscheint in ihrem OEuvre das präzise Erforschen von Formen, Situationen und der Interaktion musikalischer Ebenen vor allem in der Beschäftigung mit dem Thema „Zeit“, dem Parameter, ohne den jegliche Musik undenkbar wäre, aber dessen Gestaltung zum spannendsten Thema des Komponierens geraten kann. Isabel Mundrys am Sonntag im Sonderkonzert erstmals erklingendes Werk „Balancen“ war für sie aufgrund der besonderen Stellung zu Beginn der Saison eine besondere Herausforderung, es ist ein „Eröffnungsstück“, und obwohl dieser Gedanke nicht im Vordergrund der Komposition stand, bestimmte es doch die Arbeit. „Balancen“ beschreibt einen musikalischen Prozess, der von einer literarischen Vorlage, einem Text des Schweizer Autors Peter Weber, ausgelöst wurde – ein Mensch beobachtet an einem Ort eine Szenerie. Es sind verschiedene Arten von Bewegungen: Wellen, Vogelflüge, vorüberfahrende Autos. Aus diesen „Bildern“ entstand bei Mundry ein Nachdenken über die Zeit und verschiedene rhythmische Strukturen und deren Wiederkehr. Die „Balancen“ finden zwischen unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Abläufen und Wiederholungsmustern statt; in drei Gruppen aufgefächert, gestaltet das Orchester eine Art „schwankende
Zeit“. Im Gespräch zeigt sich Isabel Mundry als anspruchsvolle
Künstlerin – Anspruch an sich selbst in dem Sinne, Gedanken präzise zu erfassen, auszukomponieren und sogar die Wirkung zu kontrollieren: „Möglicherweise verändere ich nach der Uraufführung noch etwas an einer bestimmten Stelle, ich muss es erst einmal hören“. Diese Art der Selbstkontrolle, der Nachfrage an die eigene Musik ist nicht häufig in der zeitgenössischen Musik. Für den Hörer wünscht sie sich, dass dessen Wahrnehmung durch ihre Musik geschärft werde – „Es ist nicht mein Job, das Publikum zu bedienen“, aber ihre Musik versteht sie auch nicht als Zumutung sondern als Bereicherung. Im günstigsten Fall erweitere gelungene Musik den Wahrnehmungshorizont. Die Bedürfnisse der Zuhörer,
auch die Kenntnisse und Befindlichkeiten sind sicher unterschiedlich, aber allein die Beantwortung der Frage, was die zeitgenössische Musik, Isabel Mundrys Musik erzählen kann, dürfte am Sonntag manchen Zuhörer auf eine unerwartet spannende Hörreise schicken. Isabel Mundry freut sich besonders, dass der „Capell-Compositeur“ bei der Sächsischen Staatskapelle über einen längeren Zeitraum angelegt ist, somit sei die Möglichkeit für Zuhörer und Musiker gegeben, sich intensiv auch im Gespräch den Werken und ihrer Schöpferin auseinanderzusetzen. Der Arbeit
mit der Kapelle sieht sie entspannt entgegen: „In den Orchestern sind heutzutage viele Musiker der jüngeren Generation, die zeitgenössische Musik bereits im Studium genossen haben“. „Im positiven Sinne konfliktfreudig“ und mit einem guten Dirigenten als Vermittler, so schätzt sie die optimalen Voraussetzungen für die Zusammenarbeit ein. GMD Fabio Luisi wird gleich drei Stücke von Mundry dirigieren: neben den „Balancen“, die übrigens im 8. Sinfoniekonzert wiederholt werden, auch das Orchesterwerk „Nocturno“ (12. Sinfoniekonzert) und das Klavierkonzert „Panorama ciego“ (4. Aufführungsabend). Außergewöhnlich und mutig ist die Entscheidung der Kapelle, die „Balancen“ im April nächsten Jahres auf einer Europatournee zu präsentieren. Zudem wird es im 5. Kammerabend ein Porträtkonzert von Isabel Mundry geben. Außerhalb der Semperoper ist die Komponistin in Dresden an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber präsent, dort ist im Januar 2008 eine Projektwoche geplant. Vor dem Konzert stellt sich Isabel Mundry am Sonntagnachmittag im Rundfoyer der Semperoper im Gespräch mit dem Dramaturgen Tobias Niederschlag vor.


Sonntag, 9. September, 16 Uhr
Rundfoyer Semperoper
Der „Capell-Compositeur“ 2007/2008 stellt sich vor: Die Komponistin Isabel Mundry / Karten zu 5 Euro an der Tageskasse und im Vorverkauf Schinkelwache.

Sonntag 9. September, 19 Uhr
Sonderkonzert zur Amtseinführung von Fabio Luisi
Isabel Mundry: „Balancen“ für Orchester (2007) (UA)
außerdem Werke von Alban Berg und Richard Strauss
Sächsische Staatskapelle Dresden, Dirigent Fabio Luisi, Anja Harteros,
Sopran

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