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Spagat auf dem Seil der Utopie

François Sarhans „Lâchez tout!“ bei den Tonlagen Hellerau

Als „Film und Musikperformance“ war die Abendveranstaltung am Freitag bei den TonLagen in Hellerau angekündigt. Doch fernab einer klaren Definition war es vor allem eines dieser Konzerte, nach denen man erst einmal sehr bewegt oder/und irritiert den Saal verläßt und versucht, das Gehörte und Gesehene zu verarbeiten. „Lâchez tout!“ schrieb der französische Komponist François Sarhan 2013 – in Hellerau fand nun die deutsche Erstaufführung statt. Berücksichtigt man, was Sarhan alles zur Aufführung beisteuert, bekommt der Begriff Komponist ganz neue Dimensionen: in die Noten für das interpretierende „Red Note Ensemble“ (mit Geige, Gitarre, Schlagzeug, Klarinette/Sax und Synthesizer) aus Glasgow sind Sprechpartien integriert, die den ebenso vom Komponisten produzierten Film begleiten, dazu agieren noch zwei Geräusch-Schauspieler.

Sarhan ist zudem Enzyklopädiker, Stop-Motion-Künstler, Schriftsteller und alles in allem wohl im besten Sinne ein Phantast, der sich mit „Lâchez tout!“ einen kleinen, aber übervollen surrealen Kosmos erschaffen hat mit Figuren, die mittels Elixieren, aber auch Bomben irgendwie die Welt verbessern wollen und permanent an der Verbindung zwischen Innen und Außen, Realität und Fiktion scheitern. Bobok, der Protagonist des Films, wandelt mit monströsen Kopfhörern durch eine halbwegs reale Welt mit Arien schmetternden Bänkern (sic!), rückwärts fahrenden Autos, Escher-Treppenhäusern und Paternostern – er trägt dabei die Enzyklopädie unter dem Arm, deren Auslegung ihn kontinuierlich in Konfliktsituationen bringt.

Dadurch entsteht ein seltsam fragiler Humor, eine Weltkritik, die aber im fiktiven Rahmen verbleibt und in dieser Künstlichkeit poetische Züge hat. Sarhan könnte dieser Spagat auf dem Seil des Surreal-Utopischen gelingen, wenn nicht seine eigene Akribie dem ganzen Vorhaben mehrfach im Wege stehen würde, er aber am Ende auch die Übersicht über die Proportionen verliert. Zuviele Traditionen werden hier zitiert und bemüht, die zwar nicht absichtsvoll ineinanderpassen wollen, aber oft zu stark als Referenz wirken. Da lupfen Monty Python in den Stop-Motion-Teilen des Filmes ebenso den Hut wie andernorten Jacques Tati, André Breton oder Jean-Pierre Jeunet; Literatur (Sade) und Bildende Künste (der vollgestopfte Installationsraum des Künstlers Hans Langner etwa) werden ebenso liebevoll wie beiläufig eingeflochten.

Sarhan ist ein Candide der modernen Welt und scheitert ein wenig an seinen eigenen gehegten Traditionen – fast schon bieder wirkt die Filmszene, in welcher Sarhan seinen Quijote endlich zu seiner Dulcinea finden läßt, die sich in der Folge dann allerhand wild kostümierten Geistern und Schatten in einem tschechischen Bahnhofsgebäude stellen müssen. Geht es vielleicht doch um eine immer gleiche Geschichte, durch die Jahrhunderte mit wechselnden Mitteln der Zeit erzählt? Die Wecker-Lunten-Bombe im Handtäschchen löst schließlich das proportional etwas kurze und abrupte Ende mit einer Flut aus, die alles verschlingt. Sicherlich sind die vielen Widersprüche der Film-Musik-Performance insofern verständlich, da sie uns Sarhan als einen wachen Geist vorstellen, der uns dieses Satyrspiel zur Erbauung mitgibt – gerade aber in der Wirkung, um die ein Komponist nie verlegen sein sollte, war vor allem die stilistisch selten eine persönliche Handschrift oder auch eine Metaebene zeigende Musik, die in den Sprechgesangpassagen zu viele deskriptiven Anteile aufwies, zu schwach, als dass das Gesamtkonzept länger tragfähig gewesen wäre.
(20.10.14)

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