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Dem Unsagbaren eine Stimme geben

„Violinen der Hoffnung“ erklingen in Dresden im Pogromnacht-Gedenkkonzert der Philharmonie

Es ist eigentlich für eine menschliche Seele unvorstellbar, sich den Morgen des 10. November 1938 wirklich zu vergegenwärtigen: Synagogen im ganzen Land – Gebetshäuser, Häuser der Innigkeit und der Versammlung sind dem Erdboden gleichgemacht worden, Flammen züngelten, Menschen kamen um, wurden vertrieben und mussten um ihr Leben rennen. Was wenige Jahre später in den Holocaust mündete, war hier schon in grausamster Weise als eine systematische Torpedierung von Werten wie Respekt und Menschlichkeit Realität geworden. Der 80. Jahrestag des Gedenkens an die Reichspogromnacht im November 1938 wird in den nächsten Tagen in Dresden zeichengebend mit vielen Veranstaltungen und gemeinsam mit Künstlern aus aller Welt begangen. An der intensiven Auseinandersetzung mit der für diese Ereignisse passenden oder eng verbundenen Musik sowie in der Beschäftigung mit den Menschenschicksalen und bis heute reichenden Folgen können wir wahrnehmen, dass dieses Gedenken kein Lippenbekenntnis ist. Ein aktiver Nachvollzug kann heute menschliche Werte gegen Verfolgung und Ausgrenzung, gegen Hass oder mangelndes Mitgefühl vermitteln und lebendig machen – insofern sind Konzerte des Pogromgedenkens auch ein Bekenntnis zur gesellschaftlichen Verantwortung, für die Mitwirkenden wie für die Zuhörer.

In diesem Jahr reiht sich die Dresdner Philharmonie stark in die Veranstaltungen ein und bettet sie gleichzeitig in einen etwas weiter gefassten Kontext: die Themenwoche „Erinnerung und Zukunft“ vom 4. bis 11. November widmet sich in sechs Veranstaltungen auch dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1618 und dem Ende des 1. Weltkrieges 1918. Besonders ein Konzert in der Themenreihe wird uns auch emotional stark mit der damaligen Zeit und den Ereignissen verbinden. Die „Violinen der Hoffnung“, die beim Konzert am 8. November im Kulturpalast im Konzert gespielt werden, sind klingende Zeitzeugen: Die Geigen gehörten einst Opfern des Holocausts. Gefunden wurden sie 1992 in einem Schrank in einer Geigenbauwerkstatt in Tel Aviv – und zwar von einem Dresdner.

Der Bogenbaumeister C. Daniel Schmidt machte zu dieser Zeit eine Lehre bei dem israelischen Geigenbauer Amnon Weinstein. Angeregt durch Schmidt begann Weinstein die Geschichten der einzelnen Geigen zu erforschen und die Instrumente zu restaurieren. Verfolgte jüdische Musiker hatten sie nach Palästina zu Weinsteins Vater Moshe gebracht, der ebenfalls Geigenbauer war. Jede Violine hat ihre eigene bedrückende Geschichte: sie wurden in KZ-Orchestern gespielt, retteten so sogar einigen Juden das Leben oder begleiteten ihre Besitzer auf der Flucht. Weinstein hat nicht nur die Instrumente repariert und wieder zum Klingen gebracht, er kümmerte sich auch um die dazugehörigen Schicksale, die Instrumente bekamen wieder Namen und eine Würde. In einem Interview äußerte Weinstein, der 2016 aus den Händen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Bundesverdienstkreuz für seine Arbeit mit den „Violinen der Hoffnung“ erhielt, demütig: „Ich habe mir diese Aufgabe nicht ausgesucht. Sie hat sich mich ausgesucht. Und wer wäre ich, mich ihr zu entziehen?“

Mit den „Violinen der Hoffnung“ reist Weinstein seit den 90er Jahren durch die Welt und kämpft gegen das Vergessen der Schoah an, der auch fast alle Mitglieder seiner eigenen Familie zum Opfer gefallen waren. Die Geigen gleichen Mahnmalen, sie sind aber zugleich Symbole der Hoffnung, und: sie tragen mit der Musik Unsagbares weiter – Melodien, die gleichsam von Trauer oder Trost oder von einer nicht wiederbringbaren Welt künden. „An die jüngere Generation sollen sie die Botschaft übermitteln: Nie wieder und nirgends“, so Weinstein. Im Konzert am 8. November werden die Geigen den Verfolgten des NS-Regimes eine Stimme geben. Im ersten Teil erklingen die Violinen allein, gespielt von jungen Musikerinnen und Musiker sowie Mitgliedern der Dresdner Philharmonie und es wird Musik von Werner Wolf Glaser, Tzvi Avni, Georg Philipp Telemann, Jean Baptiste Charles Dancla und Georges Enescu erklingen.

Chefdirigent Michael Sanderling dirigiert im zweiten Teil neben Musik von Ernest Bloch und Maurice Ravel das finale Adagio aus Gustav Mahlers 9. Sinfonie und ruft damit eine Welt in Erinnerung, deren Zerstörung damals begann. Das Konzert wurde vom Freundeskreis Dresdner Synagoge e. V. und der Katholischen Akademie des Bistums Meißen-Dresden mit initiiert. Amnon Weinstein ist selbst während der Konzertwoche der Philharmonie in Dresden zu Gast und wird die „Violinen der Hoffnung“ in Dresdner Schulen vorstellen. Wer über das Konzert hinaus mehr über die Geigen erfahren will, ist zu einem Vortrag von Weinstein und Schmidt am 6. November in die Neue Synagoge am Hasenberg eingeladen.

Weitere Konzerte der philharmonischen Themenwoche sind dem „Klezmer aus Krakau“ (Gastspiel Kroke, 9. November) sowie der israelischen Musik und Literatur gewidmet: am 11. November wird mit Tzvi Avni einer der bedeutendsten israelischen Komponisten und mit Elyzyar Benyoetz ein ebenso bekannter israelischer Lyriker zu Gast im Konzert sein. Wolfgang Hentrich und das Philharmonische Kammerorchester begleiten dann die Lesung der „Aphorismen“ des 1937 in Jerusalem geborenen Lyrikers. Einen Tag zuvor ist die Schauspielerin Martina Gedeck bei der Themenwoche zu Gast und stellt literarische Friedensbitten Musik von Amarcord, dem Philharmonischen Chor und der Capella Sagittariana unter Leitung von Norbert Schuster gegenüber. Eröffnet wird die Themenwoche am 4. November mit einem Kammerkonzert auf Schloss Albrechtsberg unter dem Motto „Musikalische Reflexionen“, die um die musikalischen Stimmungen zur Zeit des 1. Weltkriegs sowie dem Finden eines künstlerischen Ausdrucks in Zeiten existenzieller Not kreisen.

 

Themenwoche „Erinnerung und Zukunft“

  1. November, 19 Uhr, Kammerkonzert auf Schloss Albrechtsberg
  2. November, 19.30 Uhr, „Violinen der Hoffnung“ Vortrag in der Neuen Synagoge
  3. November, 19 Uhr, Kulturpalast, „Violinen der Hoffnung“ Gedenkkonzert der Dresdner Philharmonie, Leitung Michael Sanderling
  4. November, 20 Uhr, Kulturpalast, Kroke und Anna-Maria Jopek „Klezmer aus Krakau“
  5. November, 19.30 Uhr, Kulturpalast, „Zwischen Krieg und Frieden“ – Martina Gedeck (Lesung), amarcord, Philharmonischer Chor, Capella Sagittariana
  6. November, 18 Uhr, Kulturpalast, „Literatur und Musik aus Israel“ – Elyzyar Benyoetz (Lesung), Philharmonisches Kammerorchester

Mehr Infos auf der Website der Dresdner Philharmonie.

Foto (c) Brigitte Unger-Richter

 

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Veröffentlicht in Dresden Features Rezensionen

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