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Willkommene Überforderungen

Abschlusswochenende des Tonlagen Festivals in Hellerau

Mit einem spannenden zweiten Konzertschwerpunkt wurde das Tonlagen Festival, die Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik, am Europäischen Zentrum der Künste in Hellerau am Wochenende beendet. Seit dem 14. März hatten sich die Tonlagen mit ihrem Motto #stimme in ganz verschiedenen Aspekten und Präsentationsformen beschäftigt. Das Spektrum reichte dabei von der forscherischen Untersuchung der Stimme selbst über abstrakte Formen bis hin zur poetischen, literarischen oder offen politischen Äußerung. Letztere war im Programm nicht nur wegen der Jetztbestimmung der Künste dreißig Jahre nach der Wende ein gewollter, unbedingt auch zu diskutierender Aspekt zeitgenösssischen Schaffens. Es gab und gibt ja unzählige Beispiele, wie Musik über die Konzertbühnenrampe, die in den zeitgenössischen Genres gottlob auch als Grenze oder Mauer kaum noch existiert, hinausragt und ins Leben und Alltägliche strahlt – und umgekehrt, denn wir bringen uns als Zuhörer nur äußerlich passiv ein. Wer die Tonlagen besucht, hat fast immer Interesse an der bereichernden Diskussion oder weiterführender Auseinandersetzung.

In Hellerau wurde belohnt, wer sich unvoreingenommen dem vom neuen Musikchef Moritz Lobeck kuratierten Programm hingab, das von der Ensemblekammermusik über Performance und Installation bis hin zur Sinfonik und Club-Kultur reichte. Manche Uraufführung erschloss sich dabei – zu Recht! – nicht auf den ersten Blick, und so wollte man etwa die „Ostgezeter“-Werke des Ensembles AuditivVokal schon allein deswegen noch einmal hören, weil es für Auge und Ohr binnen zwei Stunden reichlich zu verarbeitendes Futter gab. Eine ähnliche willkommene Überforderung gab es auch am Sonnabend beim Konzert des Kölner Ensembles Garage im Festspielhaus. Der von der Komponistin Brigitta Muntendorf konzipierte Abend „Keep quiet and dance“ formulierte die Suche nach der politischen Stimme, „die nicht schreien muss, um gehört zu werden“. Sechs Komponisten ganz unterschiedlicher Herkunft gestalteten diesen inszenierten Abend, der Raumperformance, Video, Liveelektronik und Kammermusik ebenso ineinander mischte wie die künstlerisch-politischen Intentionen, die sich aber in ihrer individuellen Authentizität verbanden und bestärkten. Damit gab der Abend in seiner Gesamtheit auch ein Beispiel, wie selbstverständlich interdisziplinär zeitgenössische Musik heute arbeitet, aber sich dennoch im experimentellen Bereich der Erkundung und Betrachtung aufhält, denn die Möglichkeiten des digitalen Instrumentariums potenzieren sich ebenso schnell, wie sie – etwa in dem Aufnahmefähigkeiten sprengenden Beitrag von Yannis Kyriakides „The Arrest“  – kippen können.

Keep Quiet and Dance – Ensemble Garage

Insofern waren die Tonlagen gerade dort spannend, wo sich im Neuen starke eigene Handschriften beziehungsweise Stimmen herausbildeten, was ausgerechnet bei der im Dienstagssalon von Max Rademann angetretenen famosen Stimmkünstlerin Agnes Hvizdalek und ihrer vocal abstract music der Fall war, den Körper als faszinierendes Instrument für ein freies Schwingen von #stimme jenseits von textbezogener Semantik nutzend. Ganz andere Freiheiten und Extreme sucht der US-amerikanische Komponist Frederic Rzewski in seinen Klaviervariationen über die chilenische Widerstandshymne „The People united will never be defeated“. 1975 komponiert, tourt der nunmehr 80-jährige Rzewski mit seinem Stück durch die Welt und hinterläßt überall staunendes Publikum, so auch im Nachtkonzert zum Abschluss der Tonlagen im Festspielhaus.

Pianistisch jenseits von Gut und Böse, vermag die einstündige Tour de Force zwischen Serialismus, Volkslied und Jazzimprovisation den Hörer jedoch derart zu packen, dass man am liebsten draußen die Fahne hissen möchte: Dagegen! Und was da tönt, ist vor allem die Unbedingtheit, im künstlerischen Anliegen, die Stimme gegen Gewalt, gegen Unterdrückung oder Stillstand zu erheben. Wenn daher ein Subtext bei diesen Tonlagen unterschwellig im Raum stand, dann der des ernsthaft zelebrierten Hinweises auf noch anzuzettelnde, bewältigte oder gescheiterte Revolutionen – und die können ja auch im Inneren stattfinden.

18WEST – Songs für den Untergang
Julia Mihály

Solch eine Haltung war auch bei dem Projekt der Komponistin Julia Mihály spürbar, die am Freitagabend mit ihrer Uraufführung von „18 West – Songs für den Untergang“ die Widerstandsbewegung der 80er Jahre gegen die Startbahn West ins Blickfeld rückte. Dass beinahe zeitgleich mit Mihálys Aufführung europaweit zigtausende Menschen zu den Themen Klimaschutz, Brexit und Urheberrecht auf die Straßen gingen, zwang die Performance samt Hüttendorf und Liedermacher-Verzerrung in einen kokonartigen Zustand einer Rekonstruktion. Im Schwanken zwischen Unterhaltungsabend, Demokratiebelehrung und Realitätsüberholung verbarg sich eine kritische Zerbrechlichkeit. Genau innerhalb solcher Atmosphären entstand oft eine extreme Wirkung, für die man dankbar war.

Michael Beils als Ein-Stimmung zum Konzert des Ensembles Garage aufgeführtes „Die Zwei“ für Flöte und Klavier etwa peilte als Beethoven-Verschimmerung ohne Sicherheitsgurt gleich diese Zwischenebenen des Hörens an, aus denen man nach einer ornithologischen „Doppelbelichtung“ von Carola Bauckholt (Sabine Akiko Ahrendt, Violine) mit Brigitta Muntendorfs eigener, neuer Version von „Keep Quiet and Dance“ für Kammerensemble und Zuspielband samt der Stimm-Folie von Kamilya Jubran, die ja zu Beginn der Tonlagen auch live zu erleben war, kraftvoll wieder auftauchte. Dass Muntendorf vor allem mit diesem inszenierten Abend einen „Schlüssel zur Resonanz“ anbieten wollte, passte gut zu diesem auch vom Publikum mit gut angenommenen Tonlagen-Jahrgang, der vielfach betrachtete und ein Angebot schuf, statt Antworten und Lösungen parat zu halten. In dieser Offenheit, diesem plötzlichen Aufplatzen von Kunst und Experiment ist man bereits in Vorfreude gestimmt auf die nächsten Tonlagen im Frühjahr 2021, die dann gleichzeitig die 30. Tage der Zeitgenössischen Musik in Dresden sein werden.

Fotos (c) Stephan Floss

 

 

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