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Europa brummt mit 50 Hertz

 

Matthias Lorenz spielte vier neue Kompositionen in der geh8

Eigentlich ist es ja unbegreiflich, wieso die spannenden Konzerte des Cellisten Matthias Lorenz nicht noch viel mehr Publikum finden und vor allem endlich auch Weiterdenker und Fortführer – es dürften sich in Dresden reichlich Musikerinnen und Musiker finden, die ihrer Geige, Tuba, Harfe oder Marimba ebenfalls so spannende Klangwelten entlocken.  Denn es gibt unendlich viel zu erzählen, wenn ein Musiker sich neue Werke für sein Instrument schreiben läßt, mit den Komponisten zusammenarbeitet, sich Welten auftun oder zusammenstürzen, Unspielbares spielbar wird oder umgekehrt, schlicht: man an den äußerst lebendigen, oft überraschend verlaufenden Prozessen der Kunstenstehung auch als Zuhörer so direkt und aktiv beteiligt, gar betroffen ist wie in den Solo-Abenden von Lorenz. Wie Musik sich von der Grundidee – oder wie hier im Konzert auch aus einem Stichwort heraus – den Weg auf’s Papier bahnt und dann über die Saiten wieder ins Ohr, ist eine immer neue Weltentdeckung. Jedes Stück formuliert seine eigenen Gesetze, Farben und Spielarten, läßt kindliche Faszination und sprühenden Intellekt walten oder „zündet“ aus einer winzigen, doch explosiven Zelle heraus.

Nach einer Serie von Konzerten mit „Alten Meistern“ des 20. Jahrhunderts in den letzten fünf Jahren spielte Matthias Lorenz am Donnerstagabend die vier dafür entstandenen Uraufführungen gemeinsam in einem Konzert. So bekam man es mit den Stichworten Zeit, Balance, Raum und Leichtigkeit zu tun, mit denen die Komponisten spielerisch und werkmaßgeblich umgehen konnten. Und das taten sie auch, denn solche Begriffe eröffnen für einen Komponisten doch einen ganzen Bedeutungs- oder Erlebnisraum. Schon in Jörg Herchets „kantate zum 2. Sonntag nach trinitatis“ war das Publikum als absolut beteiligtes und gleichberechtigtes Ensemble im Entstehen der Musik gefragt und die drei als Gabe in die Aufführung eingebrachten Elemente kreierten gemeinsam mit den Cellolinien eine intensive Atmosphäre, eine Art ernsthaften Akt.

Wo nicht gesprochen wurde, da waren es doch beinahe in eine Sprachweise herüberbrechende Artikulationen des Cellos, quasi wort-tragend. Trotzdem bietet Herchet mit der ja auch in der Besetzung ungewöhnlichen Kantate einen offenen Klangraum an, der mit Menschenklang gefüllt werden will – jedes Mal ein wenig anders. Balance war dann das Stichwort für Charlotte Seithers „krü“ für Cello, ein Stück, das mit Schattierungen und Gegenübersituationen spielte, ohne das x und y einer jeden Achse in Stein zu meißeln. Am Ende aber stellte sich ein eher unentschlossen wirkendes Wanken als Dauerbetrachtung ein; es ist wohl das Risiko, wenn das Ungefähre stark reglementiert wird.

Mit Regeln konnte auch Peter Ablinger seiner Grundidee eines transferierten Klangraumes beikommen. Mit „In G“ gelang ihm eine Art akustische Möblierung, eine Musik, die einfach anwesend ist – Erik Satie winkte hier freundlich aus der Ferne. Hier endlich kam auch der Kühlschrank der geh8 ins Spiel, der zwar wegen irritativem Brummen längst ausgeschaltet war, nun aber seinen Weg ins Stück fand. Wir lernten nämlich, dass Europa auf einer Netzspannung von 50 Hertz „brummt“, Amerika etwa 10 Hertz höher. Was Ablinger nachts in Berlin brummen hörte, hat er auf einem Band eingefangen und dem Cello quasi codiert übertragen. Darauf eingelassen, gelangt der Zuhörer bald in eine Art vierten Raum und stellt eigenen Herzschlag, Kühlschrank und aufsteigende Flugzeuge in Frage, bis der erlösende Applaus kommt.

Dass schließlich Interpret, Komponist und Zuhörer aus einem gerade erklingenden Stück regelrecht entgleiten können, stellte zum Schluss Benjamin Schweitzers „drift [1]“ faszinierend unter Beweis. Lorenz‘ Versuch, einer im Stück aufzufindenden Terz nachzujagen, gerät aufgrund zunehmender Verstimmung des Instrumentes zum Lotteriespiel. Das Stück driftet auseinander und sucht sich am Ende selbst seine Bestimmung. Ein Hubschrauber schrieb die Drift dann tatsächlich noch in die Luft fort. Auf Matthias Lorenz nächste Entdeckungen darf man gespannt sein – hoffentlich auch an diesem Ort, der sich als vorzügliches Experimentalpodium für Kammermusikalisches anbietet.

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