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Bewegende Bekenntnismusik

Thementag der Philharmonie zum Mauerfall mit Uraufführungen und Wiederentdeckungen

Im Gegensatz zu manch anderen nur kursiv zu setzenden Feierlichkeiten anläßlich des Mauerfalls vor 30 Jahren, erschien die Entscheidung der Dresdner Philharmonie, am historischen Datum des 9. November im Kulturpalast einen ganzen Thementag unter dem Titel „…und der Zukunft zugewandt“ zu initiieren, als sinnvoll und bereichernd, schon allein, weil die Musik geeignet ist, nicht nur den Tag selbst angemessen zu würdigen, sondern auch verschiedene Perspektiven zuzulassen. Die waren, so erklärte Philharmonie-Dramaturg Jens Schubbe, der die Veranstaltung entworfen hatte, nicht nur der Rückschau verpflichtet, sondern die Wirkung der Erinnerung im Jetzt war Entwürfen für die Zukunft, die beispielsweise in Uraufführungen einen Ausdruck fand, zugeordnet.

AuditivVokal Dresden im Kulturpalast in Aktion.

Dafür hatte man das Ensemble AuditivVokal Dresden in den Kulturpalast eingeladen, das zu Beginn der Veranstaltung am Sonnabend neue Werke unter dem Titel „Musik – Demokratie – Europa“ vorstellte. Kann sich Vokalmusik überhaupt mit (vermeintlich) außerkunstartigen Themen wie Demokratie befassen? Allein diese Frage eröffnet ein weites Feld, mit dem sich die Komponisten schon im April in einem Workshop mit dem Ensemble befasst haben. Das Konzertergebnis mit fünf zeitlich kompakten, aber sehr unterschiedlichen Beiträgen gelang überzeugend und im doppelten Sinne vielstimmig. Manches, wie etwa „[funda’men defi’nit]“ von Harald Münz, wirkte eher wie eine soziale Studie, was aber in der Brechung bei Chatori Shimizu mit endlos skandierten Namenslisten interessanter und wie ein ausgestellter Infotainment-Spielplatz wirkte – am Ende eher erschreckend denn amüsierend. Eine Beruhigung für Auge und Ohr trat bei Stefan Beyers flächiger Komposition „Vi“ ein, der Bezug zum Thema war hingegen ebensowenig erkennbar wie der spektrale Hintergrund der Musik.

Neue Sing- und Hörerfahrungen.

Genau auf dieser hauchdünnen Grenze zwischen Ernst und subversivem Humor waren auch Hakan Ulus und Zachary Seely/Fojan Gharibnejad unterwegs. Während Ulus sich in klarer Klang- und Formsprache an Thomas Bernhards „Auslöschung“ abarbeitete (und das war von fasznierender Innenspannung!), hatte Seelys wortreich begleitete Komposition samt Singen im Müllsack einen Happening-Charakter, der im Vergleich zu einigen nun fast fünfzig Jahre alten Pionierstücken dieses Genres lauwarm wirkte. Staunen und bejubeln konnte man die Ernsthaftigkeit und Akkuratesse, mit der AuditivVokal Dresden unter Leitung von Olaf Katzer zu Werke ging – das wirkte bei allem Raffinement überaus selbstverständlich vorgetragen und trug eine Performancespannung bis in die letzte Reihe.

Dass die letzte Reihe im Kulturpalast akustisch „versorgt“ wird, ist ohnehin bei diesem Saal kein Problem, doch bei der nächsten Veranstaltung kam es überdies zu einem eigentlich unaushaltbaren Vorgang der Aufnahme der Musik, weil die Sinfonie  „In memoriam Martin Luther King“ von Friedrich Schenker (1942-2013) gleichsam auskomponierter Protest und Widerstand ist – und nur das! Und auch wenn wir mit ihm einer Meinung sind (und das zeigte die sichtliche Bewegung des Publikums am Ende der Aufführung), so muss man sich auf diese Klangmassen, dieses orchestrale Erdbeben erst einmal in seiner ganzen Überforderung einlassen. „Brandaktuell“ nannte Jens Schubbe diese Musik, und tatsächlich war kein Staubkorn an dieser Sinfonie, deren Komplexität samt dem einkomponierten, manchmal auch trompetenschreienden Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ (was sogar 1970 durchging), über- und durchdrehender Jazzcombo und einem regelrecht vom Tutti erschlagenen Cello-Solo alle Blutbahnen in Alarmbereitschaft bringt.

Das Cover der bislang einzigen Aufnahme der Sinfonie von Friedrich Schenker

Was damals im Kulturpalast zu Türenschlagen führte, ist heute eine kaum misszuverstehende humanistische Botschaft, die Schenker innerhalb seiner Zeit, seiner Umwelt, seines bedingungslos künstlerischen Verständnisses nur mit der Faust formulieren konnte. Nicht alle haben sich das getraut, nicht alle wurden aufgeführt. Mehr noch: wer schreibt denn überhaupt heute noch eine solche Bekenntnismusik, ohne Netz und doppelten (Auftrags-) Boden? Es dürfte mit Sicherheit nicht das einzige musikalische Dokument der DDR-Zeit sein, was dem Schweigen entrissen werden sollte – und sei es, um wieder befragt und diskutiert zu werden. Nach der beeindruckenden Aufführung der Sinfonie durch die Dresdner Philharmonie unter der kühl-klaren Leitung von Jonathan Stockhammer war für alle Musiker ein momentanes Optimum, aber auch die Grenze des Leistbaren erreicht.

Den Thementag rundete dann ein Kammermusikkonzert mit Musik ostdeutscher Komponisten, gespielt vom Collegium Novum Zürich, sowie eine Filmvorführung ab. In interessanten Gesprächen im Foyer (Schenker zeigte auch und endlich, dass man über das Erlebte reden muss!) mit vielen Besuchern kam klar heraus, dass für die kommenden Jahre solche Formate wie dieser Themenabend unbedingt weiter entwickelt werden müssen, um die Geschichten und Haltungen (wieder) sichtbar zu machen.

Fotos (c) Christian Hostettler, Alexander Keuk

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